Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
vorgeworfen?«
» Außer Frevel?«, wiederholte Jehudah. »Als ob das nicht ausreichte. Aber bitte, wenn du nach weiteren Vergehen fragst, kann ich dir auch solche nennen. Er hat Fischer am See Genezareth dazu aufgerufen, ihre Arbeit niederzulegen und ihm zu folgen. In der Stadt Kaphernaum, erst vor wenigen Tagen, hat er das Gleiche bei einem Zolleinnehmer getan, einem Beamten Galiläas. Mittels Zauberei oder Gaunerei hat er dort außerdem eine Wundertat begangen – angeblich soll er einen Gelähmten geheilt haben -, und nun sagen die Leute ihm übermenschliche Kräfte nach. Sie sind ihm geradezu verfallen, vor allem die dummen Frauen, die sich ja nur allzu gern von jungen Männern mit langen Haaren hinreißen lassen.«
Er warf Salome einen seiner gefürchteten Blicke zu, dem sie jedoch standhielt. Sie wurde dadurch sogar angespornt, in die Debatte einzugreifen.
»Soweit ich weiß«, sagte sie, »gibt es in Galiläa einen anderen Prediger, der von den Leuten Johannes der Täufer gerufen wird. Er verkündet ebenfalls das Nahen des Messias , und er bezichtigt die Pharisäer, falsch und doppelzüngig zu sein. Ist es nicht so?«
»Was hat das denn mit …«
»Ist es nicht so?«, fragte Salome, jedes Wort betonend.
Rabban Jehudah presste die Lippen zusammen und nickte widerstrebend.
»Derselbe Johannes der Täufer predigt gegen meine Mutter und meinen Stiefvater, weil sie eine nach dem Gesetz Mose verbotene Schwagerehe geschlossen haben. Stimmt auch das?«
Wieder nickte Jehudah, doch der Zorn in seinen Augen wurde immer größer.
»Du verlangst also von uns, dass wir einen Prediger verhaften lassen, weil er sich Fischer und Zolleinnehmer zu Wandergesellen nimmt, während dein Fürst in Galiläa einen anderen Prediger schont, der offen gegen ihn wettert und ihn mit der ewigen Verdammnis bedroht? Findest du das ausgewogen?«
»Liebend gerne würde ich diesen Johannes verurteilen lassen«, platzte Jehudah heraus. »Doch Antipas fürchtet sich vor ihm. Einer seiner Wahrsager hat ihm eingeredet, der Täufer sei ein heiliger Mann, über den der Herr seine schützende Hand hält.«
»Daran bist du selber schuld«, schleuderte Salome ihm entgegen. »Jahrelang hast du Antipas’ Aberglaube für deine Zwecke ausgenutzt, nun wendet er sich gegen dich. Wenn dein Fürst weniger Untertanen hinrichten würde, würden ihm vielleicht auch die Fischer und Zolleinnehmer nicht abhanden kommen. Ich glaube, sie sind mit diesem Jesus nur aus Angst vor Antipas zu uns geflohen, und wir wären nicht nur schlecht, sondern auch dumm, wenn wir sie auslieferten.«
Rabban Jehudah riss seine Augen noch weiter auf. »Hat hier neuerdings ein Weib das Sagen?«, fragte er Philipp.
Salomes Gemahl ließ sich nicht provozieren. Gelassen, fast nachdenklich, erwiderte er: »Ich erinnere mich, dass mein Vater Herodes vor langer Zeit über ein ganzes Dorf herfiel, weil ihm einer seiner Astrologen eingeredet hatte, dass dort der Feind seines Königreiches geboren werde. Damals starben viele Kinder. Und heute verfolgt mein Bruder auf Anraten ebenso schlechter Ratgeber friedliche Prediger, die Gelähmte heilen. Ich habe nicht die Absicht, mich an diesen Methoden zu beteiligen. Die Worte meiner Frau sind auch meine Worte.«
Jehudah stieß einen Laut der Empörung aus. »Ich werde mich beim römischen Prokurator über dich beschweren. Dann werden wir ja sehen, wer eines Tages König von Judäa wird.« Damit wandte er sich ab und ging davon.
Salome ließ einige Atemzüge verstreichen, bevor sie sagte: »Ein grässlicher Mann. Seine letzte Bemerkung habe ich allerdings nicht verstanden. Was faselte er da von einem jüdischen König?«
»Es gehen neuerdings Gerüchte, dass Kaiser Tiberius die Inthronisation eines neuen Königs von Judäa erwägt. Als Favoriten gelten natürlich Antipas und ich.«
Ihre Augen leuchteten auf. Sie hatte kaum Hoffnung gehabt, dass die Römer je wieder ein solches Experiment wagen würden, aber nun schienen sie sich zu besinnen – der Tod Livias, der kaiserlichen Mutter, machte den Weg dafür frei. Ihre Gebiete rund um Ashdod fielen nun an Tiberius, und es bereitete ihm wohl eine große Freude, genau das Gegenteil von dem zu tun, was seine Mutter stets für Judäa gefordert hatte: Er wollte die römischen Legionäre aus dem Land abziehen. Zweifellos wurde seine Entscheidung von Pilatus befürwortet, der lieber heute als morgen Judäa hinter sich lassen wollte.
Philipp als König und sie als Königin, es konnte, es durfte
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