Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
noch etwas von Philipp. Aufmerksam verfolgte sie seine segensreiche Politik und griff nur gelegentlich ein, wie zum Beispiel in der Frage der thora als allgemeingültiges Gesetz und bei der Freilassung von Sklaven. Sie hatte immerhin erreicht, dass kein Sklave länger als fünf Jahre in seinen Diensten stehen musste, danach wurde er oder sie freigelassen.
Antipas jedoch könnte all das innerhalb eines einzigen Jahres als König zunichte machen, denn er setzte einzig auf die Macht der Truppen, der Spitzel und brutaler Häscher – also auf Unterdrückung.
Philipp seufzte und gab klein bei. »Aber es muss wirklich eine noble Stadt werden«, bekräftigte er. »Dann soll sie meinetwegen gebaut werden. Geld genug ist ja da, dank unserer bisherigen Sparsamkeit.«
Salome konnte ihre Freude nicht verbergen, und für einen Moment vergaß sie sowohl ihre Beherrschung wie auch den Ärger über ihren Mann. Sie umarmte Philipp, der auf der Stelle erstarrte.
»Die Stadt wird wie ein geschliffenes Juwel«, versprach sie. »Wir beauftragen jene Architekten, von denen dein Schreiber vorhin gesprochen hat, diesen Kallisthenes und den anderen.«
»Timon«, ergänzte Philipp, und ein ungeheures Glücksgefühl bemächtigte sich Salome, als sie den Namen ihres Geliebten aus dem Munde ihres Mannes hörte.
»Dies hier ist Agamemnon, mein Gemahl. Jetzt tot, die Meisterarbeit meiner rechten Hand, und recht getan hat diese Künstlerin.«
Die reulose Stimme der Klytämnestra schallte die Ränge des Theaters hinauf und ließ Timon frösteln. Die Figur der Königin von Argos, die um ihres Geliebten willen den Gatten tötete, jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Aber nicht nur ihm. Etwa zweihundert Frauen und Männer von Epidauros wohnten dem Schauspiel des Aeschylos bei, doch kein Laut kam auch nur einem von ihnen über die Lippen. Niemand hustete, keiner bewegte sich, alle starrten gebannt in die orchestra , die runde Bühne, und verfolgten, wie die kalte Gattenmörderin sich vor dem Chor für ihre Tat rechtfertigte.
Als die Szene zu Ende gespielt war, holte Timon zum ersten Mal seit einer halben Stunde wieder tief Luft und löste seinen Blick aus dem Zentrum des Theaters. Schwarzblaue Nacht hatte sich zwischenzeitlich auf das Hügelland von Epidauros gesenkt, nur in der Ferne, im Westen, glomm noch ein dünner Streifen Tageslicht. Das Theater lag außerhalb der Stadt und war mühsam zu erreichen, außerdem hatte Timon keinen guten Platz bekommen, denn er saß fast am oberen Rand. Die Sicht jedoch war unübertroffen. Hinter dem Halbrund des Theaters wölbten sich die peloponnesischen Berge wie mächtige Wogen vor dem Horizont. Der Himmel war mit Sternen übersät und die Luft von den tausend Pinien wie parfümiert.
Er liebte dieses Land. Er liebte seine Mythen aus grauer Vorzeit, die hier noch immer lebendig waren, die Geschichten von Trojas Untergang, von Jasons Suche nach dem goldenen Vlies, vom Kampf des Perseus gegen das Seeungeheuer oder von der Tragödie am Hof von Argos, die er gerade als Schauspiel erlebte. Hellas war nicht irgendein Land, das er zufällig mochte, es war die Heimat seiner Vorfahren. Die Mythen, die Hügel, Wälder und Sterne lagen ihm im Blut. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich zu Hause, und eigentlich wollte er nie wieder von hier weggehen.
Sogar die Menschen mochte er, obwohl er hier sehr viel Widersprüchliches erlebt hatte. Die Griechen waren ein tolerantes Volk, das sich zwar seiner Bildung und seiner feinsinnigen Lebenskunst bewusst war und sich für etwas ganz Besonderes hielt, doch sie zwangen niemanden, die griechische Überlegenheit anzuerkennen. Es genügte ihnen, dass sie selbst darum wussten. Natürlich sprachen sie nie über ihre Überlegenheit – das wäre unfein gewesen. Und doch war das Wissen darum allgegenwärtig. Wenn die Hellenen Gäste von den Küsten des mare nostrum empfingen, waren sie überaus freundlich, fragten höflich nach der Heimat, erkundigten sich nach den jeweiligen Göttern und den Feiertagen, so dass alle die griechische Gefälligkeit rühmten. Was jedoch kaum einer der Fremden bemerkte, war der leicht herablassende Tonfall ihrer Gastgeber, der besagte: Ist ja alles ganz nett, aber hier und nur hier ist es richtig.
Am deutlichsten bekamen Römer diesen Unterton zu hören, denn ihnen gegenüber war man etwas offenherziger. Man verzieh ihnen nicht, dass ein Hellene – nämlich Aeneas – vor achthundert Jahren an die Tibermündung
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