Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
fromm, weitaus frommer als die meisten Eiferer da draußen, und genau diese Gottesfürchtigkeit stand ihm nun im Weg. Vielleicht liebte er eine andere, eine Sklavin womöglich, die er nicht ehelichen konnte, oder eine verheiratete Frau. Und sein Glauben verbot ihm darüber hinaus jede körperliche Beziehung zu ihr. Ein Dilemma, das gewiss auch die Ursache seiner Kopfschmerzen und der gelegentlichen Schlaflosigkeit war.
»Du darfst dich nicht so quälen, Philipp, sonst gehst du daran zugrunde.«
»Ich soll Gottes Gebote brechen?«
»Ich breche sie doch auch, und bisher hat mich kein Blitz getroffen. Nicht von Gott werde ich bedroht, sondern von Menschen, die glauben, in Gottes Namen zu handeln.«
»Aber die Gebote geben uns Ordnung und Sicherheit.«
»Mir nicht«, stieß sie hervor, »für mich bedeuten sie nur Bedrückung und Schmerz. Ich nehme mir die Freiheit, leidenschaftlich zu sein, zu lieben, zu erfahren … Alles, was wir Menschen schätzen, entsteht aus Leidenschaft oder Liebe, die Musik, die wir hören, die zauberhaften Gärten, in denen wir spazieren gehen, die Freunde, die wir beschenken. Und so sollten auch die Kinder aus Liebe entstehen. Unser Alltag sollte voll davon sein. Irgendwann ist es irgendjemandem eingefallen, die eine Liebe für gut und die andere für schlecht zu erklären. Doch welche Liebe kann eine Sünde sein?«
Er schwieg dazu. Vielleicht fand er es unsinnig, ausgerechnet mit ihr über Glaubensfragen zu diskutieren. Und es stimmte: Sie konnte beim besten Willen diese Welt der tausend Gebote nicht mehr verstehen, Gebote, die wie dunkle Wolken über den Herzen der Menschen lagen. Die Liebe und die Freiheit zur Liebe spendeten ihr so viel Licht und Wärme, dass sie diejenigen nicht mehr begriff, die freiwillig den Schatten der Zwänge wählten. Seit gestern Nacht, seit sie die elementarsten Gebote gebrochen hatte, war Gott nur noch ein kleiner, schwach funkelnder Stern an ihrem Himmel.
»Habe ich dich mit dem, was ich getan habe, verletzt?«, fragte sie. »Hast du deswegen geweint?«
»Nein«, antwortete er. »Nein, es hatte nichts mit dir zu tun. Es gibt da etwas, das ich mit mir selbst abmachen muss, das ich schon längst hätte klären müssen.« Er wandte sich ihr zu. Mit einer Wärme in der Stimme, die sie nicht von ihm kannte, ergänzte er: »Ich bitte dich lediglich, im Umgang mit Timon diskret zu sein, Salome. Um meinetwillen und um deinetwillen.«
»Du hast nichts dagegen, dass Timon und ich uns weiterhin treffen?«
»Nein.«
»Und du fühlst dich nicht schlecht dabei?«
»Im Gegenteil. Deine Liebe zu Timon und unser Gespräch haben mir sogar geholfen.«
»Wobei?«
»Bei einer Entscheidung.«
»Darf ich fragen, welche?«
»Keine Sorge, sie betrifft dich nicht.«
»Nun, wenn das so ist … Darf ich erfahren, woher du über Timon und mich so schnell Bescheid wusstest? Ich frage nur, weil ich künftig – deinem Wunsch entsprechend – diskreter sein möchte.«
»Nathan«, sagte er knapp. »Er ist euch gefolgt, als ihr in den Wald gingt.«
»Ich mag ihn nicht. Er hat etwas Hartes in seinem Gesicht.«
»Das ist mir noch nicht aufgefallen. Wie auch immer: Er wird euch nicht mehr beobachten.«
Sie nickte. Da sie das Gefühl hatte, dass Philipp nun allein sein wollte, verabschiedete sie sich mit einem dankbaren Blick. Jeder Groll, den sie gegen ihn gehegt hatte, war verschwunden. Was Philipp für Timon und sie tat, war nicht selbstverständlich, und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, schätzte sie ihn nun nicht nur als Herrn seiner Untertanen, sondern auch als Mensch.
Als sie die Tür vom Gebetsraum von außen geschlossen hatte, lehnte sie sich gegen das Holz und atmete frei und tief durch. Wieder einmal hatte sie in der vergangenen Stunde ein Wellental der Gefühle durchquert, wie so oft, seit sie Timon kannte. Eine weitere Etappe war genommen, ein Hindernis überwunden, doch würden Timon und sie je uneingeschränkt zusammengehören, je offen zu ihrer Liebe stehen dürfen?
Dergleichen war nicht in Sicht. Doch noch etwas anderes beunruhigte Salome, nämlich, dass außer Timon, Philipp und ihr noch jemand von ihnen wusste: Nathan, der Schreiber.
»Ich halte das nicht länger aus.«
»Beherrsche dich.«
»Ich muss sie haben. Hörst du? Ich will, dass Salome vor mir tanzt.«
Herodias biss die Zähne zusammen. Hätte sie Antipas damals bloß nicht zu der Fahrt nach Bethsaida überredet. Nichts Gutes war dabei herausgekommen. Sie hatte entdecken müssen, dass
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