Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
dürfen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben setzte sie den Fuß auf eine Insel. Von der kleinen Anlegestelle aus führte ein steiler Treppenpfad durch die Klippen und Felswände. Bei diesem feuchten Wetter waren die moosbewachsenen Stufen glitschig, und sie musste aufpassen, nicht auszurutschen und in die Tiefe zu stürzen.
»Das ist hier schon einigen passiert«, erklärte die Ordonnanz, die sie führte. »Der Felsen dort unten ist bereits rot vom Blut der Verunglückten.«
Diese Tatsache wirkte, so seltsam es schien, beruhigend auf Salome. Übles Gerede besagte nämlich, Tiberius lasse unliebsame Gäste von seiner Villa aus in die Tiefe stürzen. Weiter hieß es, er sei ein misstrauischer Mensch, finster, uneins mit sich und der Welt, schwankend zwischen Angst und Hass, ein Menschenfeind, entstellt von Schwären auf der Haut und geplagt von Alterskrankheiten. Doch könnte es sich mit diesen Gerüchten nicht ähnlich verhalten wie mit denen über sie, die sie als verdorbene, schamlose Hure mit Lust an Gewalt beschrieben? Salome nahm sich vor, dem Kaiser unvoreingenommen gegenüberzutreten.
Doch sie trat ihm erst einmal überhaupt nicht gegenüber, denn Tiberius empfing sie den ganzen Tag nicht. Sie wurde in ein Gästehaus unterhalb der Villa Iovis , seiner Residenz, gebracht. Hier, dicht an den steil abfallenden Felswänden, war sie eingebettet zwischen Himmel und Meer, und als der glühende Sonnenball sich am Abend für wenige Momente zwischen Wolken und unendlichen Horizont schob, erstrahlte ihr Gemach in orangenen Farben, bevor sich schnell – schneller als irgendwo sonst – die Nacht wie ein Tuch über sie breitete.
Ihr wurde garum gebracht, ein Brot mit eingebackenem Käse, dazu Wein vom Vesuv, später noch eine gedämpfte Barbe mit Zitronen und Oliven sowie eine Schale frischer grüner Birnen, die zu dieser Jahreszeit gerade geerntet wurden. Jeder begegnete ihr wie einer Prinzessin, aber die Diener sprachen sehr wenig, und sie erfuhr von keinem etwas darüber, ob der Kaiser gedachte, sie am nächsten Tag zu empfangen.
Stunden später wurde Salome von einer Sklavin geweckt, die ihr mitteilte, Tiberius möchte sie sprechen.
»Es ist mitten in der Nacht«, stellte sie fest.
Die Sklavin machte eine entschuldigende Geste, die wirkte, als sei sie schon Routine geworden.
»Also gut«, sagte Salome missmutig. »Teile dem Kaiser mit, ich werde mich mit der Ankleide beeilen und …«
»Er möchte dich jetzt sehen, Herrin.«
»Ich trage nur mein Nachtgewand.«
»Dann wirf dir rasch noch eine stola über, Herrin, und folge mir. Der Kaiser wartet bereits.«
Salome war ziemlich ungehalten über diesen seltsamen Wunsch, sie mitten in der Nacht empfangen zu wollen. Ihr Haar war nicht gesteckt, die Augen verschlafen, das Gewand unpassend für eine Begegnung mit dem mächtigsten Herrn der Welt – und ihre Richter. Doch die Aufforderung war unmissverständlich. Wie die Sklavin ihr geraten hatte, warf Salome sich einen weißen Schleier über das nachtblaue Seidengewand, schlüpfte in die Sandalen und verließ dann sofort ihr Gemach.
Soweit sie erkennen konnte, war die Villa Iovis eine imposante und prächtige Palastanlage, ohne allerdings von Prunk überladen zu sein. Tiberius hatte vor seiner Kaiserschaft sechs Jahre lang auf Rhodos gelebt und den luftigen Baustil der Insel lieb gewonnen. Schlanke Säulen, lange Fluchten, Reliefs mit Motiven aus der olympischen Mythologie, ein Bad umrahmt von Statuen nackter Frauen … Tiberius ließ es sich gut gehen in seiner Einsiedelei.
Die Sklavin führte Salome in einen Saal, der nur schwach von Öllampen erhellt war, doch die Wolkendecke hatte sich aufgelockert und ließ bisweilen etwas Mondlicht herein. Sie sah sich um und bemerkte, dass sich niemand im Raum befand, nicht einmal Sklaven standen in dunklen Ecken und warteten dienstbereit auf eine Anweisung. Dann schloss sich die Tür hinter Salome, und sie war allein. Zumindest glaubte sie das.
Unschlüssig machte sie einige Schritte. Sie war nicht ängstlich, aber die Situation kam ihr merkwürdig vor. Außer einem Schemel und einer Liegebank war der Raum ohne Mobiliar, dafür jedoch mit zarten Malereien an den Wänden und einer schlichten Ornamentik auf dem Boden verschönert. Vom Meer erhob sich ein Rauschen, und ein frischer Wind spielte mit Salomes offenen Haaren.
»Ich lebe in der Nacht«, raunte eine Stimme, und jetzt erst bemerkte Salome die schlanke, hoch aufgeschossene Gestalt auf der Terrasse. Der Kaiser starrte
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