Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
jedoch ganz andere Sorgen. Gestern wurde der Anführer dieser verräterischen Rebellen gefasst und mir vorgeführt, ein Wahnsinniger mit funkelnden Augen, der mich mit Schimpfworten bedeckte und mir vor die Füße spuckte. Ein gewisser Barkassus.«
»Barabbas«, flüsterte ihm einer seiner Beamten zu.
»Wie? Ach so. Nun gut, dann eben Barabbas. Die seltsamen Namen in eurem Land sind noch am leichtesten zu verkraften. Eure Prediger allerdings hängen mir wirklich zum Halse heraus. Der Hohepriester möchte, dass ich einen dieser Messiasse hinrichte, die in Judäa wie Pilze wuchern, einen gewissen Janus.«
»Jesus«, korrigierte der Beamte.
»Sei’s drum. Der Mann war hier und spielte sich auf. Ein König will er sein. Ich sage ja, ihr seid alle nicht richtig im Kopf, wie sich erst neulich wieder gezeigt hat. Also habe ich auch ihn zum Tode verurteilt, wie zuvor Bar … Bar … wie den Aufrührer. Doch nun der Witz bei der Geschichte: um das erregte Volk wieder auf unsere Seite zu bringen, raten mir meine Beamten, einen der Todgeweihten zu begnadigen, und zwar jenen, den das Volk begnadigt sehen möchte. Siehst du, mit welchen Narren ich es hier zu tun habe? Und da hat mir deine fanatische Suche nach einem verkokelten Griechen gerade noch gefehlt.«
Salome verstand nicht mehr, wieso sie Pilatus früher amüsant gefunden hatte. Er war ein beschränkter, selbstsüchtiger und ignoranter Wichtigtuer, der noch nicht einmal merkte, wie sehr er andere Menschen mit seinem Gerede verletzte. Doch sie hatte nicht vor, sich noch lange mit ihm abzugeben.
»Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass ich Judäa verlassen werde.«
Er sah sie an wie einen Geist. »Wie bitte?«
»Du hast mich gut verstanden, Pilatus.«
»Bist nun auch du völlig übergeschnappt? Es steht dir nicht frei zu gehen, wohin du willst. Du stehst vor Gericht. Gut, der Prozess wird sich verzögern, weil dieser … dieser Natron von Aufständischen erschlagen wurde …«
»Nathan«, berichtigte der Beamte.
Salome war bekannt, dass Nathan tot aus den Trümmern geborgen worden war; sie selbst hatte daneben gestanden, als man seine Leiche fand. Auch Rabban Jehudah, ihr größter Feind, war ebenso wie Timon im Gefängnis umgekommen. Und nicht nur das: Ein Drittel der Mitglieder des Sanhedrin waren tot, noch einmal so viele verletzt. Es würde Wochen dauern, bis ein neuer Gerichtshof zusammentreten konnte, aber sie hatte nicht die Absicht, so lange zu warten.
Timons Worte, als er abgeführt worden war, beschäftigten sie schon seit Tagen. Was hatte er damit gemeint, als er sie daran erinnern wollte, zu welcher Familie sie gehörte? Sie bezog die Worte natürlich zunächst auf die herodianische Familie, doch schließlich begriff sie, dass sie auch noch zu einer anderen Familie gehörte.
»Es spielt keine Rolle, dass Nathan und Jehudah tot sind«, sagte sie. »Ich habe das Recht, vom Kaiser selbst abgeurteilt zu werden, und ich beabsichtige, genau dieses Recht in Anspruch zu nehmen.«
»Du bist verrückt«, hauchte Pilatus kopfschüttelnd und wandte sich dann an den Beamten. »Sie ist verrückt, einfach verrückt.« Er erhob sich und schrie: »Gibt es denn in diesem Land niemanden mehr mit Verstand?«
»Ich bin die Letzte. Nach meiner Abreise«, konterte sie, »wird es so sein.«
»Du reist nirgendwohin, schon gar nicht zum Kaiser.«
»Ich«, sagte sie fest, »bin ein Mitglied der julisch-claudischen Kaiserfamilie, bin einst von Augustus aufgenommen worden.«
Pilatus erinnerte sich. Tatsächlich hatte Augustus noch zu Lebzeiten des Herodes dessen gesamte Sippe ehrenhalber in seine Familie aufgenommen. Noch heute lebten einige Nachkommen des Herodes in Rom und waren mit Mitgliedern der kaiserlichen Familie eng befreundet.
»Bei Minerva, du sprichst wahr«, staunte er.
»Und daher«, fuhr sie mit erhobenem Kopf fort, »hat kein Gericht der Welt das Recht, mich zu verurteilen, mit Ausnahme des Imperators selbst. Ich werde zu Tiberius reisen, schon morgen, und weder du noch sonst jemand kann mich daran hindern.«
Pilatus schluckte und ging zu Salome. Seine Stimme klang versöhnlich, als er sagte: »Hindern? Wieso sollte ich dich hindern? Wie gut, dass dir deine Stellung wieder eingefallen ist. Nicht auszudenken, ich hätte am Ende noch eine Verwandte des Kaisers dem Henker übergeben. Selbstverständlich schicke ich noch heute eine Depesche los, die Tiberius von deinem Eintreffen informieren wird. Ich wünsche dir eine gute Reise und viel
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