Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
damit auch die Demütigungen und Verluste vergessen.
Der Mann trug die völlig erschöpfte Salome auf Händen in die Antonia, brachte sie in ihr Gemach und ließ sie allein. Fünf Tage lag sie im Bett, trank wenig, aß nichts und ließ Timons Kette nicht los. Sie trauerte und grübelte von früh bis spät und auch noch nachts über die schrecklichen Verluste der letzten Zeit. Alles, was ihr Leben schön machte, war verloren – Liebe, Freundschaft, Ziele, Zukunft. Sie blickte auf Jerusalem und dachte an ihre Kindheit im Herodespalast und daran, dass die Menschen, die einmal mit ihr dort gelebt hatten, und die Menschen, die später hinzugekommen waren, alle auf die eine oder andere Weise gegangen waren. Sie hatte sich bemüht, hatte sich mit aller Kraft an jene geklammert, die sie liebte, und doch waren alle verschwunden. Zuletzt Timon. Dieser Verlust war der schlimmste von allen, ein Henkersschlag. Sie wünschte den Tod herbei, doch der Tod kam nie, wenn man ihn wollte. Wie sollte sie ohne den Menschen weiterleben, der einst in Ashdod die Liebe in ihr geweckt hatte, der sie geformt hatte, als er sie mahnte, nicht eine Fürstin über das Volk, sondern für das Volk zu sein, der ihr Wissen gegeben und Visionen geschenkt hatte, der ihr eine Moral vermittelte, die er von seinem Vater gelernt hatte, der ganze Jahre mit Liebe, Stunden mit Leidenschaft und Augenblicke mit Zärtlichkeit füllte, dessen Eigenheiten ihn ebenso kompliziert wie spannend machten, der mit ihr lachte, der mit ihr stritt, der sein Leben für sie aufgab. Zum ersten Mal spürte sie, wie sehr das Glück von einem einzigen Menschen abhing. Damals, in Ashdod, hatte sie ihn zwar auch verloren, doch nicht aufgegeben. Das war heute anders. Er würde nicht noch einmal aus dem Nichts auftauchen. Er war fort.
Für immer.
Sie konnte in der Welt nichts Gutes mehr sehen. Sie überlegte, sich einfach verurteilen zu lassen oder sogar ihr Schicksal zu beschleunigen und aus dem Fenster zu springen. In diesen Tagen hallte allerdings auch Harithas Stimme unentwegt in ihrem Kopf wider: niemals aufgeben. Niemals resignieren. Im Grunde war es ihre eigene Stimme, die aus der Vergangenheit rief, aus den Tagen, als sie sich und Haritha dieses Versprechen gegeben hatte. Anfangs hasste sie diese Stimme. Die Vergangenheit hatte gut reden, dachte sie. Die Vergangenheit, das waren warme Tage am See Genezareth, als sie so etwas wie eine Familie und Freunde und als sie noch Hoffnung hatte. Was war davon geblieben? Rauchende Trümmer, ein Aschenhaufen.
Das war das Stichwort: Trümmer. Wenn du vor einem Trümmerhaufen stehst, dann laufe darüber hinweg, hatte Haritha ihr geraten. Dieser Satz berührte irgendetwas in ihr. Es war, als glömme noch ein Funken, der dadurch angefacht wurde. Nach einem Tag ging es ihr etwas besser und am nächsten noch ein wenig mehr. Sie aß leichte Kost und fand die Kraft, ihr Gemach für einen kurzen Spaziergang zu verlassen.
Einen weiteren Tag später wusste sie, dass Timon nicht gegangen war, ohne ihr – außer einer Kette – noch etwas hinterlassen zu haben.
Sie war schwanger. Schon auf dem Weg von Bethsaida nach Jerusalem war ihr aufgefallen, dass ihre Blutung ausgeblieben war. Doch jetzt erst konnte sie sich wirklich sicher sein. Und für dieses Kind, sein Kind, musste und wollte sie leben, mit aller Kraft, die noch immer in ihr steckte. Das war sie Timon schuldig, das war sie dem Kind schuldig, das war sie letzten Endes auch sich selbst schuldig. Sie würde über den Aschenhaufen hinwegschreiten. Und dabei half ihr ein zweites Geschenk, das Timon ihr unmittelbar vor seinem Tod gegeben hatte. Timon war buchstäblich ihre und seines Kindes Rettung.
Salome suchte Pontius Pilatus im praetorium der Antonia auf, seiner Empfangshalle, wo er regierte und richtete. Er war sichtlich mit den Nerven am Ende, die Augen huschten unruhig vom einen seiner Untergebenen zum anderen, die Befehle klangen gereizt und er massierte immer wieder seine Schläfen. Er war nicht mehr der Mann, der einst in dieses Land gekommen war. Auf eine zynische, eigentümliche Weise hatte Judäa ihn besiegt. Pilatus war ein Wrack.
Als er Salome sah, rief er unwirsch: »Auch das noch. Ich sagte doch schon, Fürstin, ich kann mich nicht mit der unsinnigen Suche nach Verschütteten befassen.«
»Die unsinnige Suche hat zwei Menschen das Leben gerettet und vielen Hinterbliebenen wenigstens einen Leichnam zum Bestatten gegeben.«
»Wie schön für die Leichenbestatter. Ich habe
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