Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
fröhlich zuging.
Die nächste Überraschung erlebte sie, als Efraim sie und Berenike in einen Raum führte, in dem ein Duft süßen Zitronentees sie begrüßte, der sich angenehm mit dem von Mandelbroten und geschmorten Äpfeln vermischte. Die eigentliche Sensation war, dass die Erfrischungen von Frauen und Männern gereicht wurden. In Judäa undenkbar.
Die Leute gingen sofort auf Salome und Berenike zu, und binnen weniger Atemzüge hatten sie die Bekanntschaft von zwei Weberinnen, einem Töpfer und einem Parfümhersteller gemacht, die alle durcheinander redeten, bis Salome schwindelte. Nach drei Kelchen Zitronentee und zwei Stücken Mandelkuchen ebbte das Geplauder ab, und die Leute versammelten sich im angrenzenden Raum, wo sie sich auf gemütlichen Bodenkissen niederließen. Salome erwartete eine Predigt und wollte innerlich bereits die Ohren verschließen, doch nichts dergleichen geschah. Wem danach war, der konnte sich erheben und etwas sagen, was die anderen kommentieren konnten oder auch nicht. Eine Frau stand auf, sah Salome an, lächelte und sagte: »Es ist keine Sünde, sich seines Lebens zu erfreuen, solange diese Freude aus dem tiefsten Innern kommt.« Zustimmendes Gemurmel ertönte von allen Seiten. Ein Mann erhob sich, blickte sie ebenfalls an und sagte: »Diejenigen, die Häme und Fluch schicken, werden in Schimpf und Schande untergehen. Allein der Herr verurteilt und spricht frei.« Und eine dritte Frau meinte: »Wenn die Menschen häufiger auf ihr Herz hören würden und weniger auf die Zungen von anderen, gäbe es weniger Feindschaft in der Welt.«
Einer nach dem anderen stand auf und sagte etwas, und bei jedem fühlte Salome, dass die Worte an sie gerichtet waren, Worte des Trostes und des Rückhalts. Auch für Berenike gab es Unterstützung, denn ihr Schicksal hatte sich herumgesprochen und berührte die Leute. Sie beide waren in dieser Stunde von Freunden umgeben.
Irgendwann trat Rabban Efraim nach vorne und kündigte ein Prosagedicht an. Solche pijutim , die wahlweise gesprochen oder gesungen werden durften, waren sehr beliebt in Synagogen. Üblicherweise, das wusste Salome, trug sie der chasan vor, der Vorbeter, doch an diesem Tag musste es sich wohl anders verhalten, denn eine Frau trat an Efraims Seite und sang das Gedicht. Ihre wundervolle Stimme füllte die gesamte Synagoge aus und mischte sich mit dem Gesang der Vögel, der von draußen kam. Das pijut war erstaunlich lang, aber Salome genoss jeden Moment davon. Sie hätte es nie für möglich gehalten; sie fühlte sich tatsächlich wohl unter dem Dach der Synagoge.
Nach dem Ende des Gedichts, als alle sich erhoben und in den Innenhof strömten, wo Efraim sie verabschiedete, ging Salome zu der Frau und lobte sie für die Schönheit der Strophen und der Stimme.
»Aus dem Mund einer Frau klingen solche pijutim viel innerlicher und poetischer«, fügte sie hinzu. »Gut, dass in dieser Synagoge nicht nur die Vorbeter singen.«
»Oh, das ist ein Missverständnis«, sagte die Frau. »Ich bin Vorbeter.«
Diese Neuigkeit raubte Salome fast den Atem. In Judäa wären Tumulte entstanden, wenn dort eine Frau zum chasan gemacht worden wäre. Doch hier schien so etwas selbstverständlich zu sein.
»Bis auf das Amt des Rabban «, fügte Efraim erklärend hinzu, »kann eine Frau so gut wie jede Aufgabe in der Gemeinde übernehmen, nicht nur bei uns im vierzehnten Bezirk, sondern in ganz Rom. Soweit ich weiß, trifft das auch auf die Gemeinden in Africa und Hispanien zu.«
Salome war ehrlich beeindruckt, und nun schämte sie sich, dass sie Efraim kürzlich so angefahren hatte. Der Rabbiner schien es ihrer Miene anzusehen.
»Wir freuen uns, wenn wir Menschen durch unser Verhalten angenehm überraschen – und dadurch anleiten, es uns nachzutun. Wir möchten fröhliche Gesichter sehen, Fürstin, keine beschämten.«
Sie verstand den Wink und strahlte ihn an. »Darf ich dich und die chasan für heute Abend in mein Haus einladen«, sagte sie. »Ich möchte euch so gerne …«
Sie verspürte einen plötzlichen Schmerz und beugte sich nach vorne. Berenike und Efraim mussten sie auffangen und auf den Boden legen. Krämpfe schüttelten Salome. »Das Kind«, sagte Berenike. »Es ist so weit.«
»Ich hole einen Arzt«, bot Efraim sofort an und rannte aus der Synagoge. Schon nach wenigen Augenblicken kam er mit einem der Gäste zurück, die zuvor der Versammlung beigewohnt hatten. Der Arzt tastete Salomes Bauch und Becken ab, dann sagte er: »Das Kind
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