Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
riesig.«
»Ja«, sagte Salome nur.
Berenike kannte die Ursache für Salomes Einsilbigkeit sehr wohl und kam gerade deswegen auf sie zu sprechen. »Morgen ist der achte Tag nach der Geburt«, begann sie.
»Bitte, Berenike«, wehrte Salome ab, »ich bin wirklich nicht wild darauf, dieses Thema zum sechzehnten Mal in dieser Woche zu diskutieren.«
»Gemäß dem Brauch wird ein Knabe am achten Tag beschnitten.«
»Das weiß ich selbst.«
»Dann weißt du sicher auch das: Die Gemeinde, allen voran Rabban Efraim, wird morgen vor deiner Tür stehen.«
»Ich befürchte es.«
»Willst du sie etwa wegschicken?«
»Ich weiß noch nicht, was ich tun werde.«
»Dann werde ich dir mal nachhelfen. Du wirst sie selbstverständlich hereinbitten und die b’rit milá vollziehen lassen, die Beschneidung.«
»Gilead ist der Sohn eines Griechen«, entgegnete Salome. »Ich sehe keine Veranlassung …«
»Gilead? Das wird sein Name?« Berenike schmunzelte. »Du siehst keine Veranlassung, ihn wie einen Juden beschneiden zu lassen, gibst ihm aber einen jüdischen Namen? Meine liebe Salome, ich glaube, du bist dir nicht so sicher, was die b’rit milá angeht, wie du immer tust. Sitzt du darum stundenlang im Garten und starrst auf eine Ziegelmauer?«
Salome atmete tief durch. »So etwas will gut überlegt sein, Berenike. Ein Name ist nur ein Name. Wenn ich Gilead hingegen beschneiden lasse, ist er in den Bund eingeführt und damit ein Teil des jüdischen Volkes. Nicht nur Teil dieser Gemeinde, Berenike, sondern des ganzen Volkes. Und du weißt, dass ich schlechte Erfahrungen gemacht habe.«
Berenike senkte den Kopf und schloss die Augen. »Schlimmer als meine Erfahrungen können sie nicht gewesen sein«, murmelte sie. »Trotzdem würde ich keinen Moment zögern, meinen Sohn Jude sein zu lassen. Vielleicht ist es falsch, dass unser Volk darauf beharrt, auserwählt zu sein, sozusagen das erste Volk Gottes. Allerdings haben wir auch keinen Grund, uns zu schämen. Wir sind aufrecht, tapfer, friedliebend und doch streitbar. Was ist falsch daran?«
»Ich habe Angst, dass …«
»Ja, ich weiß«, schnitt Berenike ihr das Wort ab. »Du hast Angst, dass Gilead werden könnte wie Kephallion oder Jehudah, und diese Vorstellung ist schlimm. Doch jedes Volk hat seine Kephallions und Jehudahs. Sieh dir diesen Caligula an oder Pilatus. Was für ein Mensch Gilead wird, hängt nicht davon ab, ob er beschnitten wird oder nicht. Ob er eine Heimat haben wird, schon. Enthalte ihm nicht vor, was er durch dich nun einmal ist: ein Jude. Erziehe Gilead im Geiste dieser Gemeinde – weltoffen, mitfühlend, freundschaftlich -, und er wird ein Jude, der alle Tugenden in sich vereint und unserem Volk Ehre machen wird.«
Salome ergriff Berenikes Hand. »Du bist ja richtig weise geworden«, scherzte Salome. »Ich … ich habe noch eine andere Angst.«
Berenikes Stirn legte sich in Falten. Sie hatte Salome selten so verunsichert gesehen wie in diesem Augenblick.
»Ich habe dir doch erzählt«, begann Salome, »wie Johannes der Täufer mich verflucht hat, das erste Mal am Jordan, das zweite Mal kurz vor seinem Tod. Er hat auch Antipas und Herodias verflucht, und nun ist der eine wahnsinnig und die andere …«
Berenike nickte. Vorgestern war die Nachricht von Herodias’ Tod eingetroffen.
»Was ich dir noch nicht erzählt habe«, fuhr Salome fort, »ist, dass er auch meine Kinder verflucht hat. Wenn ich Gilead nun nicht zu einem Juden mache …«
»Du denkst, dann würde er nicht dem Fluch eines Juden unterliegen?« Berenike atmete tief durch. »Auch du bist verflucht worden, Salome. Und was ist passiert? Der Herr hatte wahrlich genug Möglichkeiten, dich zu zerstören: der Prozess, der Aufstand, die Geburt … Du warst während eines Jahres dreimal in größter Gefahr. Nein, Salome, es gibt keine Flüche, und im Grunde weißt du das auch. Du hast nie an so etwas geglaubt. In den vergangenen Monaten ist jedoch so viel geschehen, dass es auch an dir nicht spurlos vorbeigegangen ist. Du hast Timons Tod noch immer nicht verwunden und …«
Salome brach in Tränen aus, wie noch nie zuvor. Sie hatte seit der Demütigung durch Kephallion in Ashdod nicht mehr geweint und geschworen, es nie wieder zu tun. Doch sie schaffte es nicht mehr, diesen Schwur zu erfüllen. Berenike nahm sie tröstend in die Arme. »Schon gut, schon gut«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. »Lass es raus. Es wurde höchste Zeit.«
Die Trauer und das Leid eines ganzen Jahres brachen
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