Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
wofür er jedoch sie verantwortlich machte.
Salome hatte geahnt, dass Berenikes Ehe mit Kephallion kein Honigschlecken gewesen war, aber diese Torturen hätte selbst sie ihm nicht zugetraut. Umso erstaunlicher – und erfreulicher – war, dass Berenike nicht schwächer, sondern stärker geworden war. An die frühere Berenike, die etwas naive, ideenlose, leichtgläubige Frau mit ihrem seichten Geplapper erinnerte fast nichts mehr. Sie hatte Kephallion aus eigener Kraft besiegt, und die bitteren Jahre hatten sie glücklicherweise nicht streng, sondern reif gemacht.
»Du warst mir ein Vorbild«, gestand Berenike. »Wenn du mir nicht durch dein Beispiel gezeigt hättest, dass es besser ist, zu widerstehen als hinzunehmen, würde ich wohl immer noch in Nazareth von meinem Mann verprügelt werden.«
»Nicht doch! Nicht mir gebührt der Verdienst.«
»Weißt du nicht, wie man dich mittlerweile in Judäa hinter vorgehaltener Hand nennt? Die Löwin.«
Salome hatte in der Tat davon gehört, und sie wusste nicht, ob es eine Beleidigung oder Anerkennung war, mit einem Raubtier verglichen zu werden.
» Du bist die Löwin, Berenike. Du allein hast den Mut aufgebracht, gegen deinen Mann aufzustehen.«
»Mit deiner Hilfe«, korrigierte Berenike. »Und der von Menahem. Ich vermisse ihn.«
Das allerdings konnte Salome nicht nachvollziehen. »Nach allem, was du mit einem Zeloten erlebt hast, trauerst du bereits wieder einem anderen nach? Das darf doch nicht wahr sein!«
»Menahem ist nicht wie Kephallion.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, schimpfte Salome. »Es reicht bereits, dass du für einen schwärmst, der denselben abstrusen Ideen wie dieses Ungeheuer anhängt. Du bist zu vertrauensselig, Liebes.«
»Und du zu misstrauisch. Du kannst ja kaum noch einem Juden die Hand geben, nicht einmal Rabban Efraim, der dir nun wirklich sehr entgegengekommen ist.«
Über diese Sache mochte wiederum Salome nicht gerne reden, und genau das wusste Berenike, deswegen ließ sie nicht locker. »Ich finde, du solltest Beziehungen zur römischen Diaspora aufnehmen, Salome. Du kannst nicht verleugnen, wer du bist und woher du kommst, das geht doch nicht!«
»Und ob«, trotzte Salome. »Ich bin nicht aus Judäa weggegangen, um mich in Rom dem Willen der j üdischen Diaspora zu fügen.«
»Wenn du dich wie Agrippa von den Juden absonderst, werden die Leute denken …«
»Was sie denken, interessiert mich nicht mehr«, erwiderte Salome scharf, und Berenike ließ seufzend von dem Thema ab.
Doch sie gab ihren Plan, Salome mit ihren jüdischen Brüdern und Schwestern zu versöhnen, nicht auf und unternahm wenige Tage später erneut einen Versuch, indem sie von Salome einen Gefallen erbat.
»Wozu, um alles in der Welt, soll ich dich morgen in die Synagoge begleiten?«, fragte Salome.
»Weil ich mich dann sicherer fühle. Alles ist neu für mich in Rom, so fremd.«
»Die Diener kennen den Weg.«
»Es geht um die Leute in der Synagoge, Salome, nicht um den Weg. Alle werden wissen wollen, wer ich bin, woher ich komme, ob ich verheiratet bin … Ich bin noch nicht soweit, Scharen von Menschen Rede und Antwort zu stehen.«
»Warum gehst du dann hin?«
Darauf fiel Berenike nichts Passendes ein, außer die Beleidigte zu spielen. »Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren bitte ich dich um einen winzigen Gefallen, und du musst so lange quengeln und sticheln, bis ich … bis ich …« Sie rannte davon – und erreichte ihr Ziel. Salome bekam ein schlechtes Gewissen und versprach, sie am nächsten Tag in die Synagoge zu begleiten, obwohl sie hochschwanger war und sich unwohl fühlte.
Die Synagoge des vierzehnten Bezirks Transtiberim lag, wie der Name des Bezirks schon besagte, jenseits des Tiber im Westen Roms. Mehrere kleine Häuser am Fuße des Hügels Ianiculum waren zu einem einzigen zusammengebaut worden, so dass ein kleiner Innenhof entstanden war, in dem eine hohe Palme wuchs. Ihr Samen war vor einer Generation aus Judäa mitgebracht und hier eingepflanzt worden, und die Erde um sie herum stammte aus Idumäa, Samaria, Peräa, Galiläa und den anderen Teilen des Gelobten Landes. Auch aus dem Lande Dan, rund um Philippi, war ein Beutel Erde beigemischt. Der Hof und die Räume um ihn herum waren voller Menschen, die miteinander schwatzten und lachten. Traditionell waren Synagogen nicht bloße Bethäuser, sondern Mittelpunkte des gesellschaftlichen Lebens einer Gemeinde, aber Salome hatte das Gefühl, dass es in dieser Synagoge besonders
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