Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
an diesem Nachmittag aus Salome hervor, und ihr Weinen mischte sich für eine ganze Stunde mit dem Getöse einer enthemmten Römerschaft.
» Baruch ha-ba «, wisperte die Gemeinde, als Salome mit dem Säugling auf dem Arm die Synagoge betrat. »Gesegnet sei, der da kommt.«
Sie hätte die Leute auch in ihrem Haus empfangen können, zog es jedoch vor, Gilead an dem Ort beschneiden zu lassen, an dem er geboren worden war.
Sie übergab ihren Jungen Rabban Efraim, den sie zum sandak bestimmte, zum Paten, und dieser reichte ihn dem Arzt weiter, der ihn zur Welt gebracht hatte und nun als Beschneider fungierte, als mohel . Auf den Knien Efraims wurde der Säugling abgelegt und die Beschneidung vollzogen. Nachdem der Arzt die Wunde versorgt hatte, sprach er den Segen über den Wein, und die Gemeinde antwortete: »Möge dieser Kleine groß werden. Wie er in den Bund eingeführt worden, so möge er in die thora , in die Ehe und die Ausübung guter Werke eingeführt werden.«
Die folgenden Jahre waren Balsam für Salome und Berenike. Sie nahmen sich ein größeres Haus im vierzehnten Bezirk, nahe der Porta Aurelia und einem Aquädukt, das ihnen ständig frisches Wasser garantierte. Sie taten es der Synagoge gleich und pflanzten sich eine Palme in den Innenhof, unter der sie jeden Abend ihre Mahlzeiten einnahmen. Zum shabbat gingen sie in die Synagoge. Bald waren sie ein fester Bestandteil der Gemeinde, und damit sie wie die anderen bei den selbst gemachten Präsenten mithalten konnten, die man sich in der Gemeinde zu bestimmten Anlässen gegenseitig schenkte, begann Berenike wieder mit Sticken und Weben, was während der Ehe mit Kephallion ihre Hauptbeschäftigung gewesen war, während Salome ihre Abneigung gegen handwerkliche Tätigkeiten überwand und Schleier zuschnitt.
»Du kannst wohl doch nicht ganz von den Schleiern lassen, wie?«, neckte Berenike sie manchmal.
»Sie gehören zu mir wie das Atmen«, erwiderte Salome dann. Doch sie hatte seit jener Nacht in Masada keinen Schritt mehr getanzt.
Efraim kam jede Woche vorbei und besuchte die beiden Frauen und sein Patenkind. Für Gilead wurde er jedoch der Großvater, und wenn der Rabban einmal unabkömmlich war und sich zwei Wochen nicht blicken ließ, fragte der Knabe nach ihm.
Auf ihren Jungen war Salome stolz. Gilead war aufgeweckt und neugierig und sog neue Eindrücke wie ein Schwamm in sich auf. Bald schon genügte ihm der vierzehnte Bezirk nicht mehr. Er wollte mehr von Rom sehen, und so unternahmen sie zahlreiche Ausflüge zu den Foren oder entlang der Via Appia. Wenn Salome mit ihm durch die Gassen der Metropole spazierte, fragte sie sich oft, ob hier einst auch Timon als kleiner Junge gegangen war, wo er gespielt und mit welchen Leuten er gesprochen hatte. Ob einer der Händler sich womöglich an den blonden Jungen erinnerte, der immer etwas kleiner als die anderen gewesen war, dafür hellwach und freimütig? Sie erkundigte sich bei verschiedenen Kaufleuten – Goldschmieden, Geldverleihern, Bäckern -, bis sie eines Tages tatsächlich jemanden fand, der sich an Timon erinnern konnte.
»Ich war noch ein junger Mann«, erzählte der dickbäuchige Kaufmann. »Das Geschäft gehörte meinem Vater, und der war ganz vernarrt in den kleinen Griechen, der vor nichts Angst zu haben schien. Timon, ja ja, der kannte sie alle hier in der Gegend, vom kleinen Dieb bis zum Senator. Hier, aus dieser Gewürzbüchse hat er immer genascht – mein Vater bewahrte darin Gebäck auf. Und du bist sein Sohn?«, fragte der Mann.
Gilead nickte.
»Ein prima Bursche, dieser Timon«, sagte er. »Genau wie du.«
Gilead gefiel dieser Ausflug zu dem Kaufmann, und er besuchte ihn von da an häufig und naschte aus der Gewürzbüchse, auch wenn Salome nicht dabei war.
»War es richtig, Gilead über den Kaufmann mit seinem Vater bekannt zu machen?«, fragte sie Berenike zweifelnd.
»Es war die beste Idee, die du seit langem hattest«, erwiderte Berenike. »Du hast Gilead ein Geschenk gemacht, wie es kein anderes gibt. Trotzdem«, schränkte sie ein, »musst du aufpassen, dass deine Erinnerung an Timon nicht übermächtig wird. Das Leben geht weiter, Salome.«
»Ich weiß.«
»Nein«, widersprach Berenike. »Ich glaube, du weißt es nicht.«
Zu Agrippa hatten Salome und Berenike kaum Kontakt. Er besuchte weder sie noch die Synagoge, sondern ging völlig im turbulenten Treiben der römischen Clique um Caligula auf. Ab und an trafen sie sich zufällig bei Antonia, wenn die
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