Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
so überraschend«, begann er. »Vielleicht … vielleicht finden wir noch eine andere Lösung. Ich meine …«
»Soll ich die verängstigten Menschen etwa wieder wegschicken?«, fragte Efraim leicht verärgert über Agrippas Zaudern. »Es sind deine Brüder und Schwestern im Blute, deine …«
»Schon gut«, unterbrach ihn Agrippa. »Ich werde es vermutlich noch sehr bereuen: Alle, die du mitgebracht hast, können bleiben. Im Stall ist ausreichend Platz.«
»Wo immer du willst«, lächelte Efraim, umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. »Ich wusste, du würdest dein Volk nicht im Stich lassen.«
An diesem Abend sprach Agrippa kaum noch ein Wort und ging früh zu Bett.
Wochen vergingen, ohne dass etwas geschah, und wieder klammerten sich alle an die Hoffnung, dass das Schlimmste überstanden sei. Die Septembersonne unterstützte diese Gefühle, prächtiger konnte ein Spätsommer in Latium nicht sein. Die Tage begannen und vergingen in einem wunderbaren Leuchten, das Zirpen der Grillen erfüllte die Luft, und die umliegenden Hügel waren bedeckt vom satten, goldgelben Getreide. In den Weingärten, die zum Landgut gehörten, begann die erste Lese. Die Morgenfrische nutzend, schwärmten die Arbeiter aus und brachten die Ernte in die nahe gelegene Kelter. Traditionell halfen dabei auch die Besitzer, doch Agrippa verzichtete auf diese Ehre und ließ sich gerne von Salome vertreten. Das Pflücken der blauschwarzen Trauben machte ihr Spaß und lenkte sie ab, außerdem fühlte sie sich stärker mit den Gemeindemitgliedern verbunden, die Agrippas Gastfreundschaft und Hilfe mit der Arbeit im Weingarten vergalten. Manchmal stellte Salome sich vor, was wohl Herodes, Akme oder Herodias sagen würden, wenn sie sie so sehen könnten, eine Prinzessin von Judäa und Fürstin von Ashdod mit Messer und Strohhut bestückt, die Hände fleckig vom Rebensaft. Dann lachte sie auf und fing sich so manchen verwunderten Blick ein.
An diesem späten Vormittag holte Efraim sie ab. Auch er trug einen Strohhut und sah damit aus wie ein alter Weinbauer.
»Du mutest dir zu viel zu«, schalt er sie. »Du bist diese Arbeit nicht gewöhnt.«
»Dann gewöhne ich mich jetzt an sie.«
»Und du bist nicht mehr die Jüngste, wie jeder sehen kann.«
Sie stützte die Fäuste in die Hüften. »Ausgesprochen galant«, kommentierte sie, aber ihrer beider Lächeln zeigte, dass sie nur scherzten.
»Wo ist Gilead?«, fragte Efraim und sah sich suchend um.
»Er spielt irgendwo mit Agrippinos. Berenike ist bei ihnen.«
Agrippinos war Agrippas Sohn. Er war mit seinen zehn Jahren gut drei Jahre älter als Gilead; die beiden verstanden sich prächtig und verbrachten fast jede Stunde des Tages zusammen. Salome freute sich, dass Gilead einen guten Freund gefunden hatte, noch dazu einen, der jüdisches Blut, griechische Erziehung und römische Weltoffenheit in sich vereinigte.
»Wirf endlich dieses dumme Messer weg«, sagte Efraim. »Ich begleite dich zum Haus zurück.«
Salome leistete keinen Widerstand. Tatsächlich war sie nicht mehr die Jüngste und freute sich bereits auf ein kühles Bad in ihrem Quartier, auf Brot, gemischten Wein und eine Bank zum Ausruhen. Zuerst musste sie jedoch den kleinen Korb mit Trauben in der Kelter abliefern. Sie verließen den Weingarten und schlenderten nebeneinander her.
»Ich muss oft an die Schwestern und Brüder in Rom denken«, seufzte Efraim. »Ob sie wohl alle die Stadt verlassen konnten, bevor die Opferungen begannen?«
»Rom hat viele Verstecke«, beruhigte ihn Salome.
»Die Ungewissheit zehrt an mir. Wir leben hier völlig abgeschnitten von den Geschehnissen. Am liebsten würde ich mein Bündel packen und nach Rom zurückkehren.«
»Was könntest du dort schon ausrichten, Efraim? Die Menschen hier brauchen dich, deinen Zuspruch und deine Führung.«
Efraim wiegte den Kopf hin und her. »Meine Schwestern und Brüder hier hätten andere, die ihnen zusprechen und sie führen könnten«, sagte er.
»Falls du dabei an Agrippa denkst …«
»Himmel, nein!«, rief er. »Ich bin Agrippa für seine Hilfe wirklich dankbar, doch ein Führer und Betreuer ist er nicht gerade. Er hat wieder angefangen zu trinken und reitet jeden Tag mit seinen Freunden auf die Jagd ins vivarium . Hirsche, Fasane, Strauße, er erlegt sie wie ein Besessener. Du weißt, unser Glauben lehnt die Jagd zum Zwecke des Vergnügens ab. Ich weiß«, kam er einem Einwand Salomes zuvor. »Du nimmst es auch nicht immer so genau mit den
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