Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Zöllnern, Dirnen und sonstigen Ausgestoßenen und Außenseitern begleiten ließ. Er prophezeite schlimme Sachen, zum Beispiel, dass der Tempel mit der Bundeslade, Licht und Klammer unseres Volkes, schon bald zerstört würde, und zwar von Juden selbst.«
Agrippa erschrak. »Unser höchstes Heiligtum? Von uns selbst zerstört?«
»Ja, und dass anstelle unseres Königreiches ein anderes treten wird.«
»Undenkbar«, rief Kephallion. »Mit solchen bösartigen Prophezeiungen soll das Volk verunsichert werden, mein König. Nach der Hinrichtung des falschen Propheten schwärmten seine Anhänger aus und streuten ihre falschen Lehren unter das Volk. Ihre größte Anhängerschaft finden sie bei den Essäern und in abgelegenen Dörfern.«
»Bei den Friedlichen und Bedürfnislosen«, rief eine Stimme dazwischen. Salome war unbemerkt durch eine Seitentür eingetreten und hatte dem Gespräch eine Weile gelauscht. Nun trat sie wie selbstverständlich in die Runde der Männer. Ihr Blick blieb zunächst auf Sadoq haften. Sie war dem Führer der Zeloten noch nie begegnet, hatte sich aber aus Berichten und Erzählungen ein Bild von ihm gemacht – ein falsches, wie sie nun sah. Er war ein hagerer Mann mit schütterem Bart und eingefallenen, müden Augen, der aussah, als habe man ihn gegen seinen Willen geweckt. So wie er jetzt vor ihr stand, war es für Salome kaum vorstellbar, dass er früher voller Kraft und Visionen gewesen sein sollte. Es bedurfte keiner großen Menschenkenntnis, um festzustellen, dass Sadoq nur noch formal die Geschicke der Zeloten lenkte. Kephallion beherrschte ihn, trieb ihn in ein neues gewalttätiges Abenteuer und schickte sich nun an, auch den König zu treiben und zu beherrschen. Offenbar hatte er sich zuvor schon der Unterstützung der Pharisäer versichert, während der bucklige alte Hohepriester arglos genug war, das tückische Spiel mitzuspielen.
»Ihr macht es euch zu einfach«, sagte sie an den Hohepriester und den Pharisäer gewandt. »Wenn die Menschen den Christiani zuhören, dann deswegen, weil sie der aufgeblähten Regelwerke unseres Glaubens überdrüssig sind, weil die unzähligen Vorschriften sie einengen und weil jede Abweichung ihnen vorgehalten wird wie ein Schwerverbrechen. Vierhundert pharisäische Vorschriften, zusätzlich zu den sechshundertdreizehn göttlichen Geboten. Ihr lasst den Menschen zu wenig Freiheit.«
»Die Gebote müssen penibel eingehalten werden«, beharrte der Pharisäer Matthias.
»Und was ist die Belohnung, wenn man sie einhält?«, fragte Salome, obwohl sie die Standardantwort der Pharisäer darauf kannte.
»Lohn des Gebotes ist ein weiteres Gebot.«
»Na bitte«, sagte Salome und blickte Agrippa an. »Muss ich noch mehr sagen? Je fester sich die Faust der Vorschriften und Gebote um das Volk schließt, desto mehr Menschen werden unserem Glauben durch die Finger schlüpfen.«
Agrippa war geneigt, ihr zuzustimmen. Auch ihm gefielen die tausend Bestimmungen nicht, an die er sich halten musste, wenn er in Jerusalem war. Hier war ihm alles zu ernst, doch er wagte nicht wie einst der große Herodes die Vorschriften zu ignorieren. Deswegen fuhr er fast jeden Monat ins abseits gelegene Caesarea und wohnte packenden Wettkämpfen und rauschenden Festen bei.
»Da ist viel Wahres dran«, sagte er nickend in die Runde.
Kephallion war aufgebracht. »Mein König. Kaum einer der falschen Prediger, die sich selbst Apostel nennen, hat die thora studiert. Sie sind Fischer und andere arme und ungebildete Leute, die keinerlei Recht haben zu predigen. Trotzdem verdrehen sie die Worte unserer heiligen Schriften. Wo kommen wir hin, wenn jeder Dahergelaufene die Worte des Herrn interpretieren darf!«
»Nun ja …«, stammelte Agrippa. »Ich weiß nicht recht.«
»Sie maßen sich Ämter an«, ergänzte Kephallion. »Der Bruder des Gekreuzigten, ein gewisser Jakobus, wird von den Christiani als ›Bischof von Jerusalem‹ bezeichnet, was so viel bedeutet wie Provinzleiter. Sie teilen also unser heiliges Land bereits unter sich auf. Falls wir die Christiani gewähren lassen, wird das schon bald den Zusammenbruch der geistlichen und anschließend der weltlichen Autorität zur Folge haben.«
Agrippa schluckte. »Zusammenbruch meiner Autorität?«
»Als letzte Folge, ja. So gesehen sind die Christiani Hochverräter.«
»Tja, aus diesem Blickwinkel betrachtet …« Agrippa rieb sich das Kinn.
»Kephallion ist doppelzüngig«, wandte Salome ein. »Vor kurzem waren die Zeloten
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