Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
ihre Helfer empfand. Und dazu musste er zunächst die Seelen der Menschen gewinnen.
»Wir gründen eine Gruppe«, erklärte Sadoq, gleichermaßen an Menahem wie an Zelon gewandt. »Und wir nennen sie nach diesem Helden am Kreuz, wir nennen sie Zeloten.«
ZWEITER TEIL
Geheimnisse
4
Salome zog ihre schmale Hand von der Klinke zurück, nach der sie eben erst gegriffen hatte. Ihr Mut war verflogen. Eben noch schien alles so einfach, sie war willens gewesen, das Unmögliche zu schaffen. Da war diese Tür nur ein Stück Zedernholz, und der Raum dahinter bloß ein Zimmer voller Männer und Jungen. Doch die Berührung der Klinke veränderte alles. Jetzt war der Raum ein cheder , ein Schulzimmer, ein heiliger Raum des Wissens, wo der Lehrer, der melammed , ein König war, und die Tür war die verbotene Grenze, die sie als Mädchen, obwohl mit beinahe sechzehn Jahren schon seit vier Jahren volljährig, nicht zu überschreiten hatte. Allein vor der Pforte zu stehen schien ihr ungeheuerlich. Salomes junges Herz überschlug sich fast. Sie hustete zweimal wie immer, wenn sie sich aufregte, dann wieder und wieder, bis sie sich krümmte. Schließlich wich sie einige Schritte von der Tür zurück, um sich zu beruhigen. Es dauerte noch eine Weile, bis sie wieder normal atmen konnte. Ehrfurchtsvoll blickte sie zur Tür.
Was für eine unsinnige Idee das doch war! Nie würde man ihr gestatten, sich am Unterricht zu beteiligen. Wieso auch? Nicht einmal ihrer Großtante war es damals gelungen, den Rabban zu überzeugen. Alle Mädchen bekamen nach alter Sitte das Lesen und Schreiben von den Vätern beigebracht, ebenso das Notwendigste über Gebote, Verbote und die Riten des Glaubens, und wo es keine Väter mehr gab, übernahmen andere männliche Verwandte die Einweisung in die grundlegenden Fertigkeiten. Doch mehr sollte nicht sein. »Du sollst die Söhne lehren …«, stand bedeutungsvoll in der thora , und das schloss Salome nun einmal von weitergehenden Studien aus. Selbst wenn Theudion gewollt hätte, konnte er ihr nichts mehr beibringen, denn ihre Großtante beschäftigte ihn mittlerweile als Toparch , als Bürgermeister, der Stadt Jebna, und er war nur noch selten am Hofe. Akme wiederum erzählte ihr zwar viel, und sie lernte dabei eine Menge, doch wenn sie mit Jungen wie Kephallion mithalten wollte, musste sie auch das wissen, was in der Schule gelehrt wurde.
So war sie erstmals vor zwei Jahren mitten in der Nacht zur Lade ihres Vaters geschlichen und hatte jene Abschrift der thora auf ihr Zimmer mitgenommen, die die Aufschrift Genesis trug. Was sie damals von der Erschaffung der Welt las, raubte ihr fast den Atem. Keine Müdigkeit konnte sie daran hindern, alles über die ersten Menschen und die Schliche des Bösen zu erfahren, über den ersten Mord und die große Flut. Da sie noch nicht viel Übung im Lesen hatte, kam sie nur langsam voran, und nach jedem Absatz ließ sie die Schriftrolle sinken und sich das Geschriebene – den Blick in die winzige Flamme der Öllampe vertieft – noch einmal durch den Kopf gehen. Sie war geradezu vernarrt in die vielen Geschichten, die das Buch erzählte.
Als sie etwa in der Mitte des Textes angekommen war, passierte jedoch etwas Seltsames. In einem plötzlichen Anflug von Ärger zog sie die Augenbrauen zusammen und schleuderte die Rolle in die nächste Ecke. Zwar bekam sie im nächsten Augenblick Gewissensbisse und hob die Schrift wieder auf, aber ihren Ärger konnte und wollte sie nicht verleugnen. Sie las noch einmal: » Noach hatte drei Söhne: Sem, Ham und Jafet. Deren Kinder wurden nach der großen Flut geboren. Jafets sieben Söhne waren Gomer, Magog, Madai … « Und ein paar Zeilen weiter: » Hams vier Söhne waren … « Und schließlich: » Sems fünf Söhne waren … «
»Haben die alle nur Söhne gehabt?«, fragte sie in das Halbdunkel ihres Zimmers hinein. »Warum redet das Buch immer nur von Söhnen und nie von den Töchtern?«
Sie war an einem Punkt angelangt, wo sie entscheiden musste, ob sie trotz ihres Ärgers weiterlesen wollte oder nicht. Sie entschied sich dafür – und bereute es nicht. Von diesem einen Makel abgesehen, fand sie die Geschichten ungeheuer spannend: Moses’ aufregende Erlebnisse in Ägypten, die Belagerung Jerichos, der Besuch der unermesslich reichen und klugen Königin von Saba in Salomos Palast, der Kampf Davids gegen Goliath … Jede der mit anderen Titeln versehenen Rollen, die Salome in den folgenden Monaten aus der Lade stibitzte, enthielt
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