Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
seine Laune eher gebessert als getrübt zu haben. »Ich gebe zu, das ist eine ungewöhnliche Erklärung, zudem schwer zu widerlegen. Warum fällt dir das ausgerechnet heute ein?«
Salome zögerte nicht, die Wahrheit zu sagen. »Weil ich mich seit heute würdig fühle, unterrichtet zu werden, Rabbiner .«
»Oho«, rief Zacharias gedehnt und neigte den Kopf hin und her. »Das nenne ich gewagt.« Langsam, die Hände auf dem Rücken gefaltet, ging er zu seinem Podium am Ende des Raumes zurück und wandte sich von dort aus wieder den Schülern zu. »Ich wäre geneigt, das Mädchen Salome zur Probe bei uns aufzunehmen, wenn niemand von euch etwas dagegen hat. Wer also Einwände hat …«
Diese Einschränkung war eine maßlose Enttäuschung für sie. Sechs der sieben Jungen hätten bestimmt keine Einwände, sie kannte sie von vielen Spielnachmittagen und kam gut mit ihnen aus. Kephallion hingegen … Von ihm sollte ihre Zukunft abhängen? Dieser Gedanke empörte sie.
Schon reckte Kephallion seinen Arm in die Höhe. »Ich habe Einwände.«
Zacharias grinste wie über ein lange erwartetes Ereignis, das endlich eintrat. »Welche Überraschung, Kephallion. Nun, da du der Einzige bist, der Bedenken hat, solltest du diese auch begründen.«
»Sie ist ein Mädchen«, platzte Kephallion heraus, als lüfte er ein Geheimnis. »Wir hatten noch nie Mädchen im cheder. «
»Begründe es nicht mir gegenüber, sondern dem Mädchen selbst«, forderte ihn Zacharias auf. »Ihr beide werdet auf der Grundlage der thora , der Schriften und der Überlieferungen miteinander disputieren. Jetzt sofort. Und wer die besseren Argumente hat …«
Zacharias bat die beiden nach vorne, wo sie Auge in Auge und vor allen anderen den Disput austragen sollten. Solcherlei war nicht ungewöhnlich im Unterricht des Zacharias. Er sah es als eine gute Übung für seine Schüler an, wenn sie ihren Standpunkt mit durchdachter und sachlicher Beweisführung untermauern konnten und nicht bloß aus emotionalen Gründen an ihm festhielten, weil sie jemanden oder jemandes Art zu denken nicht mochten oder sich gedankenlos der Meinung einer Gruppe unterordneten. So etwas, mahnte er immer, kam öfter vor, als man gemeinhin dachte. Sobald jemand in dieser Richtung disputierte, klatschte Zacharias mit einem Weidenzweig auf das Pult und gab somit zu verstehen, dass der Betreffende eine neue Richtung in seiner Argumentation einzuschlagen hatte.
Zacharias trat neben Salome und fragte: »Bist du bereit?«
Sie nickte, war jedoch alles andere als bereit. Welche Argumente konnte sie schon anführen? Das Wenige, das sie von der thora kannte, sprach gegen sie. Kephallion hingegen erhielt seit gut zehn Jahren Lehrstunden über die thora und konnte Salome mit Argumenten geradezu in den Boden rammen, wenn er wollte.
Ein Blick in seine Augen genügte ihr, um zu begreifen, dass er genau das vorhatte. Die Jahre in Ashdod hatten ihn nicht milder gemacht, im Gegenteil. Polternd setzte er außerhalb des cheders seine Ansichten gegen Gleichaltrige und Jüngere durch, so extrem diese Meinungen manchmal auch waren. Wer wollte Kephallion widersprechen? Allein sein Körper unterdrückte Widerstand. Er war nicht mehr wirklich dick so wie früher, sondern eher breit und kantig, jetzt schon ein Amboss und noch immer nicht ausgewachsen. Seltsam, wie sehr er sich doch von seinem Vater Zacharias unterschied, dachte Salome plötzlich. Sie schienen wirklich nichts gemeinsam zu haben, weder in ihrem Erscheinungsbild noch im Charakter.
Kephallion würde ihr seinen Sieg noch auf Jahre hinaus täglich unter die Nase reiben. Als sie daran dachte, juckte es in ihrem Hals, der Husten stieg auf, das Herz pochte. Schwindel überkam sie, ließ sie torkeln. Sie musste sich auf einem Bord abstützen, um nicht zu fallen. Zacharias bot ihr seinen Arm.
»Bist du tatsächlich bereit oder …?«
Sie nickte und klopfte sich mit der flachen Hand wieder und wieder auf die Brust. Den anderen musste die Geste lächerlich erscheinen, aber ihr half sie. Sie nickte immer heftiger. Ihr blieb keine Wahl. Sie musste den Disput durchstehen. Was bliebe ihr sonst noch? Langsam löste sie sich von Zacharias’ Arm.
Sie rang noch um ihr Gleichgewicht, als die Stimme des Rabbiners feierlich verkündete: »So fangt an!«
»Wie ich schon sagte«, begann Kephallion hastig, »du bist ein Mädchen. Was du wissen musst, hat dein Vater dir schon beigebracht, und was noch fehlt, kann dein künftiger Mann dir sagen – wenn du jemals
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