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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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seinem Vater. Sadoq begriff sofort, dass er tot war.
    »Sie kamen herein und haben auf ihn eingeschlagen, weil er sie beschimpfte«, jammerte die Frau. »Er hatte noch nicht einmal die Kraft, den Stock gegen sie zu erheben, aber sie waren zu fünft und haben ihn getötet.«
    Sadoq wollte weinen, aber er kämpfte dagegen an. Er durfte jetzt nicht weinen. Er musste stark sein. Er musste so sein, wie sein Vater es sich von ihm gewünscht hätte. »Gott verfluche Archelaos«, rief er. »Gott schütte seinen Zorn über alle Herodianer aus.«
     
    Am nächsten Tag bestattete Sadoq seinen Vater auf dem Ölberg östlich der Heiligen Stadt. Beinahe hätte er ihm diesen Wunsch nicht erfüllen können, denn fast jeder Jude wollte ein Grab auf dem Ölberg haben, und der gestrige Tag hatte viele das Leben gekostet. Die Menschen trampelten sich auf dem Hügel fast tot, es gab kaum Plätze für die neuen Gräber. Sadoq sah keine andere Möglichkeit, als eine Familie von dem Platz zu vertreiben, den sie besetzt hatten. Es waren nur drei Frauen und ein kleiner Junge, so dass sie Sadoqs Aufforderung, sich einen anderen Platz zu suchen, nichts entgegensetzen konnten.
    »Das war unhöflich«, mahnte ihn die Nachbarin.
    Sadoq setzte sich darüber hinweg. Er war ihr keine Rechenschaft schuldig, wohl aber seinem verstorbenen Vater, und der verdiente sein Grab auf dem Ölberg.
    Mit bitterer, unbeweglicher Miene verfolgte er die Gebete, die ein Freund von ihm sprach, der Einzige, der heute zu seinem Haus gekommen war und ihm Mut zugesprochen hatte. Gemeinsam schaufelten sie das Grab zu, dann ging er zusammen mit seinem Freund Menahem davon. Er war ein stiller, nachdenklicher Mann in Sadoqs Alter, der sich ebenfalls nicht an dem Aufstand beteiligt hatte. Seine Großeltern waren einst von Herodes’ Geheimagenten ermordet worden, woraufhin sein Vater den Kampf gegen die königliche Herrschaft aufnahm und mehrere Beamte ermordete, um schließlich gefasst und hingerichtet zu werden. Seine Mutter verfiel dem Wahnsinn und starb bald darauf. Wenn jemand wusste, dass Gewalt die Menschen für immer veränderte, dann war es dieser Freund, der seine ganze Familie verloren hatte.
    Menahem führte Sadoq vom Ölberg auf die Straße nach Jericho. Sie sprachen kaum ein Wort, denn beide ahnten, was sie erwartete. Als sie den Hügel überwunden hatten und den Hang zur Straße hinuntergingen, blickten sie auf eine Reihe von Kreuzen, die bis zum Horizont reichten, und an jedem Kreuz hing ein Jude.
    »Ich habe es nicht glauben können, als du es mir erzählt hast«, flüsterte Sadoq.
    Menahem nickte. »Unfassbar, dass Archelaos so weit gegangen ist. Er hat alle Gefangenen an die Römer ausgeliefert, und die haben jeden Einzelnen gekreuzigt. Das ist, als habe Archelaos selbst sie gekreuzigt.«
    Sadoq hatte alles, was zu den Herodianern zu sagen war, gestern schon in den Himmel geschrien. Wortlos, mit bebenden Herzen, gingen sie die Straße entlang, neben ihnen Leid, Siechtum und Tod. Alle zwanzig Schritte kamen sie an einer misstrauisch dreinblickenden, römischen Wache vorbei, die Acht gab, dass niemand mit den Gekreuzigten sprach oder sie gar anfasste. Eine Besichtigung dagegen war erlaubt, sogar willkommen: Eine bessere Abschreckung als diese Massenhinrichtung konnten die Römer sich wohl nicht vorstellen.
    Nachdem sie eine Weile gegangen waren, packte Menahem ihn am Arm. »Dort«, sagte er. Vor ihnen hing Zelon.
    Seine Kleidung war an den Beinen zerfetzt, über die nackte Brust zogen sich blutige Striemen von Peitschenhieben und seine rechte Wange war aufgeschürft und entzündet. Zelon war nicht tot, sein Kopf bewegte sich noch, aber er konnte sie nicht sehen, und selbst wenn, so wäre er zum Sprechen zu schwach gewesen. Die sengende Sonne, der Durst, der Blutverlust, das würde ihn noch heute umbringen.
    Sadoq stand wie ein Büßer vor Zelon. Er verstand nicht mehr, was ihn in den letzten Monaten von diesem Freund entzweit hatte, wieso er ihm nicht gefolgt war. Zelon hatte Recht behalten. Gegen Archelaos und die Römer, gegen alle, die sich an dem Volk Israel und seinem Land vergriffen, musste etwas getan werden. Die Feinde durften jedoch nicht unterschätzt werden; Zelons Methode des offenen, gewaltsamen Widerstands wirkte bei ihnen nicht. Ihre militärische Macht war zu groß. Sie konnten nur geschlagen werden, wenn sie die Feindschaft eines ganzen Volkes spüren würden, wenn ihre Bastionen umringt wären von Hass, demselben Hass, den Sadoq für sie und

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