Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
noch das Rennen abgewartet, weil ich dir meine Teilnahme versprochen habe und dir ein Abschiedsgeschenk machen wollte. Meinen Sieg werde ich dir widmen, Archelaos, alle sollen es wissen. So fällt ein wenig Glanz auch auf dich ab.«
Archelaos verzog sein Gesicht, als habe er soeben eine überraschende Ohrfeige erhalten. Er ließ den Kelch auf den Schoß sinken und blickte Timon ausdruckslos an. Entweder fühlte er nichts, oder er nahm sich sehr zusammen; sowohl das eine wie das andere kümmerte Timon nicht. Er hatte ein Ziel, und Archelaos spielte dabei keine Rolle mehr.
»Findest du das nicht ein wenig undankbar?«, fragte Archelaos. »Ich habe dich zu mir genommen, habe dich an meinem Hof leben lassen, habe dir teure griechische Lehrer gegeben, habe dich wie einen Sohn behandelt und …«
»Nein«, schnitt ihm Timon das Wort ab. »Ich bin nicht dein Sohn, ich habe mich nie wie dein Sohn gefühlt und habe auch nie väterliche Gefühle bei dir gespürt, Archelaos. Du hast mich aus schlechtem Gewissen gut behandelt, und ich habe dir dieses schlechte Gewissen jeden einzelnen Tag gegönnt. Von jetzt an ist mir damit nicht mehr geholfen. Du musst einen anderen Weg finden, deine Schuldgefühle zu beruhigen. Mich kannst du dafür nicht mehr missbrauchen.«
Das waren gefährliche Worte, das wusste Timon, die die meisten anderen Herrscher der Welt auf die eine oder andere Weise geahndet hätten. Archelaos hingegen schluckte und zitterte bloß wie nach einer zweiten Ohrfeige. »Wohin … wohin willst du gehen?«, brachte der Ethnarch mühsam hervor.
»Nach Ashdod.«
Archelaos erhob sich und vergaß, dass er noch den Kelch auf dem Schoß hatte. Das Silbergefäß fiel scheppernd zu Boden und kullerte über die halbe Tribüne. Den Sklaven, der es aufheben wollte, schickte Archelaos mit einer heftigen Handbewegung weg.
»Was, um alles in der Welt, hoffst du in Ashdod zu finden?«
Timon musste nichts sagen, denn die Antwort war ihm ins Gesicht geschrieben. Seine blauen Augen blitzten wie vor einem großen Abenteuer, und sein junger Körper war bis in den letzten Muskel angespannt. Archelaos wusste, was das zu bedeuten hatte.
In den letzten Jahren hatte er es vermieden, mit dem Jungen über die Geschehnisse jenes tragischen Tages in Rom zu sprechen. Dafür hatte er mehrere Gründe. Erstens war es unsinnig, in alten schmerzhaften Wunden zu rühren, zweitens führten solche Diskussionen zu nichts, und drittens war ihm die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse peinlich. Hätte er sich vorhalten lassen sollen, dass er für einen kurzen Moment nicht bei der Sache gewesen war? Alles war so schnell gegangen. Nein, er trug keine Schuld an Nikolaos’ Tod.
Das Schlimme war, dass irgendjemand anderer sie trug. Seine Brüder Antipas, Philipp und Theudion kamen nicht in Frage – sie hätten ihn selbst und nicht den Ratgeber ermorden lassen, um einen Vorteil daraus zu ziehen. Augustus? Das war ganz und gar ausgeschlossen und auch völlig unbegründet. Die Perser, die Nabatäer oder ein anderes Nachbarvolk, das auf Chaos in der Region hoffte? Auch sie hätten nicht Nikolaos, sondern ihn selbst umgebracht. Nur Akme blieb übrig.
Es hatte eine Weile gedauert, bis er begriff, was für eine gemeine, hinterlistige Person sie in Wahrheit war. Immer wieder stellte sie ihm kleine Fallen, und nicht selten hatte sie damit Erfolg. Sie benutzte die engstirnigen, strengen Pharisäer, um im Land Stimmung gegen ihn zu machen, sie hetzte seine Brüder gegen ihn auf, sie schrieb Lügen über ihn nach Rom und brachte es trotz allem fertig, wenn sie sich trafen, ihm gegenüber den freundlichsten Ton anzuschlagen und ihn anzulächeln wie eine herzensgute Mutter. Wie oft hätte er am liebsten ihren Hals gepackt und zugedrückt. Doch er hatte Angst, viel zu viel Angst vor ihrer Schläue, um auch nur das Geringste gegen sie zu unternehmen, denn Livia, und damit Rom, stand wie ein riesiger Schatten hinter ihr. Nein, er würde die Zeit das Problem lösen lassen. Wie lange konnte sie noch leben? Ein, zwei Jahre? Vielleicht drei, dann wäre er sie los, die Mörderin seines Ratgebers.
Das alles wusste Timon sicherlich auch. Er war jedoch zu jung und zu unvernünftig, um die Zeit für sich arbeiten zu lassen. Er wollte Rache. Womöglich konnte er in Ashdod finden, wonach er suchte, aber es war ein Spiel mit dem Feuer.
»Ich an deiner Stelle würde nicht nach Ashdod gehen«, warnte Archelaos.
Timon lachte verächtlich auf. »Das ist mir völlig
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