Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
ersten Mal unzufrieden gewesen. Akme war der einzige Grund seiner Reise nach Ashdod. Was sollte er ohne sie hier tun? Aber dann begriff er schnell, dass der vermeintliche Nachteil in Wahrheit ein Vorteil war. Ohne die Tetrarchin könnte er viel freier ihre mögliche Beteiligung am Tod seines Vaters untersuchen. Er konnte sich unauffällig nach ihr und ihren Helfern erkundigen, konnte sich vielleicht in ihre Räume schleichen, ihre Unterlagen durchsuchen, womöglich sogar den Mörder hier irgendwo aufspüren. Natürlich, sollte er ihre Schuld feststellen, musste er die Zeit überbrücken, bis sie wieder einträfe. Und dafür bildete sein vermeintliches Studium jüdischer Kultur einen hervorragenden Vorwand.
Jetzt aber musste er erkennen, dass ihn hier niemand mochte. Wenn die gleichaltrigen Jungen ihn ablehnten, dann würden ihre Eltern es ihnen vermutlich nachmachen oder ihm zumindest reserviert begegnen. Wie sollte er da brauchbare Informationen sammeln? Eine Ausnahme bildete allein der alte Rabban , doch ob der ihm eine Hilfe wäre …
Timon schlenderte missmutig zu dem kleinen Brunnen und spritzte sich Wasser ins Gesicht, das er auch auf Hals und Nacken verteilte. Dann beugte er sich über die winzige Fontäne und trank begierig von dem erfrischenden Nass.
»Es ist eigentlich nicht zum Trinken gedacht«, sagte jemand und tippte ihm auf die Schulter. Er fuhr herum, verschluckte sich und hustete in seine feuchte Hand. Vor ihm stand das Mädchen, das die Lesung gehalten hatte.
»Entschuldigung«, sagte er. »Ich wusste nicht …«
Sie lächelte. »Woher solltest du auch? Dieses Wasser ist schon zu lange im Brunnen, es könnte verdorben sein. Das nächste Trinkwasser gibt es auf einer Terrasse, nur zwei Ecken von hier.«
Timon betrachtete das als eine Aufforderung, dorthin zu gehen. »Dann nichts wie hin«, sagte er. »Ich sterbe vor Durst.«
Während sie nebeneinander hergingen, betrachtete er das Mädchen. Sie war etwa in seinem Alter. Sie hatte auch ungefähr die gleiche Größe, was nicht erstaunlich war, denn er war für einen siebzehnjährigen Jungen recht klein, und die meisten Mädchen liefen auf gleicher Augenhöhe mit ihm. Ihre Haut war wie die der meisten Juden dunkler als seine, dennoch wirkte sie seltsam blass. Ihr Gesicht war unauffällig, keinesfalls hübsch, aber ihre dunklen Augen strahlten vor Neugier und Lebenskraft. Timon spürte, wie sie versuchte, langsam und vornehm neben ihm zu gehen, doch an ihren Händen, die in unaufhörlichem Betätigungsdrang immer mit irgendetwas beschäftigt waren, konnte er erkennen, dass sie in Wahrheit ein unruhiges Wesen hatte.
Wenigstens eine, die ihn nicht ablehnte, dachte er.
»Was du da von eurem Gott vorgelesen hast, hat mir einen richtigen Schauer über den Rücken gejagt«, sagte er, um ein Gespräch zu beginnen.
Sie lächelte wieder. »Ja, er ist streng.«
»Ich würde dafür sogar noch andere Wörter finden. Glücklicherweise färbt seine Strenge nur auf wenige Juden ab.«
Salome dachte an die Unnachsichtigkeit ihres Vaters und die Selbstherrlichkeit von Zacharias, an die Glaubenseiferer und Traditionalisten im Lande. »Nun ja, mir fallen da schon einige ein.«
»Möglich«, erwiderte er. »Ich glaube allerdings, dass dir ein paar schlechte Erfahrungen den Blick auf das Ganze verstellen. Vermutlich kennt eine Prinzessin wie du keine einfachen Leute wie Bauern, Knechte, Handwerker und so weiter, denn dann würdest du anders reden. Dein Volk ist das gastfreundlichste, das ich kenne, und bei jüdischen Händlern kaufe ich am liebsten, denn sie betrügen nicht mit falschen Gewichten oder anderen Machenschaften. Ich finde Juden ehrlich und zuverlässig, und ich sage das nicht, um ihnen zu schmeicheln. Natürlich gibt es auch unter euch Besserwisser, Frömmler und falsche Idealisten, doch die finden sich bei allen Völkern.«
»Sie missbrauchen die Gesetze Gottes, um ihren Einfluss zu behalten. Das Volk denkt zu gut von ihnen, plappert alles nach und lehnt Neuerungen ab. Sobald ein Rabban mit der Thorarolle wedelt, hört das Volk zu denken auf. So ist es nun mal«, seufzte Salome.
»Lesen Juden häufig in den Gesetzen Gottes?«, wollte er wissen.
»Häufig? Wir lesen ausschließlich in seinen Gesetzen. Die heiligen Schriften sind der einzige Schulstoff, den wir haben.«
»Der einzige?«, rief Timon verblüfft. In Jerusalem bei Archelaos war er von griechischen Lehrern unterrichtet worden. Eine jüdische Schule hatte er nie besucht, daher war ihm
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