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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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tummelte und noch dazu den cheder besuchte.
    Ihr Blick begegnete seinem.
    »Salome!«, rief Zacharias. »Setze die Lesung fort.«
    »Oh«, schreckte sie auf und las: »Wenn ihr meine Gebote missachtet und euch um meine Rechtsordnung nicht kümmert, dann werde ich lauter Unglück über euch hereinbrechen lassen. Ich werde euch unheilbare Krankheiten schicken, die euch erblinden und langsam dahinsiechen lassen. Ich lasse es nicht mehr regnen; der Himmel über euch wird wie eine eiserne Glocke sein und der Boden unter euren Füßen hart wie Stein. Ich werde Raubtiere auf euch loslassen, die werden eure Kinder und euer Vieh fressen und so viele von euch umbringen, dass die Straßen verlassen daliegen. Ich werde feindliche Heere in euer Land einfallen lassen. Eure Städte lege ich in Schutt und Asche. Vor Hunger werdet ihr das Fleisch eurer eigenen Kinder essen. Die aber von euch, die das alles überleben, werde ich in alle Welt zerstreuen.«
    Wie immer herrschte nach diesen Worten eine sekundenlange Stille im Raum. Es war, als zöge jede einzelne der angedrohten Heimsuchungen noch einmal vorüber, mit allen Farben, allen Geräuschen und aller Angst und Trauer. Dann schloss Salome pflichtgemäß: »Ungehorsam bringt Unglück«, und der Chor der Schüler wiederholte den Satz leise und ehrfürchtig.
    Zacharias erhob sich. »Nun denn, dann wollen wir es damit für heute bewenden lassen. Bevor ihr geht, möchte ich euch noch einen Gast vorstellen. Timon ist Grieche, der bereits in Rom und in Jerusalem gelebt hat. Sein Vater hat ihn auf Reisen geschickt, damit er alle Völker des Ostens kennen lernt. Eine weise Tat, wie ich finde. Timon hat mich gebeten, ihn eine Weile an diesem Hof leben zu lassen, damit er unsere jüdischen Bräuche studieren kann, und da die Tetrarchin vor drei Tagen nach Rom abgereist ist und ich in ihrer Abwesenheit als Familienältester dem Hof vorstehe, habe ich seiner Bitte gern zugestimmt. Er wird also eine Weile bei uns bleiben und – wann immer er möchte – auch unseren Unterricht besuchen.«
    Kephallion murmelte etwas, das nur seine nächsten Tischnachbarn verstehen konnten.
    »Wie war das?«, fragte Zacharias sofort. »Wenn du etwas zu sagen hast, Kephallion, dann sage es offen.«
    Kephallion schob sein Kinn nach vorne. »Ich bin immer offen. Ich bin der Einzige hier, der immer offen die Wahrheit ausspricht, denn ich befolge Gottes Gebot, wonach niemand einen Groll mit sich herumtragen, sondern ihn immer aussprechen soll. Wörtlich habe ich gesagt: Na bestens, zuerst ein Mädchen im cheder und jetzt auch noch ein Unbeschnittener.«
    »Erstens«, entgegnete Zacharias, »sind deine Meinung und die Wahrheit zwei völlig verschiedene Dinge. Und zweitens: Da du in Gottes Geboten ja so bewandert bist, kennst du sicher auch jenes, das da heißt: Behandelt die Fremden, die in eurem Land leben, wie euresgleichen.«
    »Genau das tue ich. Wenn er wie unseresgleichen Gott ehrt, den Götzen abschwört und alle Gebote beachtet, ist er willkommen.«
    »Diese Interpretation ist an den Haaren herbeigezogen«, tobte Zacharias. »Immer wieder verdrehst du die Worte des Herrn nach deinem eigenen Willen. Wie sollen wir denn jemals Nichtjuden bekehren, wenn wir sie nicht einmal unterrichten und erst dann mit ihnen reden dürfen, wenn sie bereits unserem Glauben angehören? Das ist doch eine Eselei sondergleichen.«
    »Sie sollen überhaupt nicht bekehrt werden. Nicht sie sind auserwählt, sondern wir, und ich sage …«
    »Schluss«, schrie Zacharias so laut, dass es allen in den Ohren wehtat. »Deine Worte sind Gift, Kephallion, und ich lasse nicht zu, dass so etwas hier verbreitet wird. Du wirst Timon mit Respekt begegnen, wie wir alle.«
    Zacharias setzte sich erschöpft auf einen Stuhl. Seine rechte Hand massierte die Brust, er keuchte und sagte: »Ihr dürft jetzt gehen.«
     
    Sie hatten kaum den cheder verlassen, als die jüdischen Jungen in alle Richtungen davonstoben und Timon zurückließen. Nach wenigen Augenblicken erfüllte eine nahezu vollkommene Stille den kleinen, schattenlosen Hof, nur das sanfte Plätschern eines Brunnens und ein paar entfernte Vogelstimmen zeugten von Leben.
    So hatte er sich seinen Aufenthalt nicht vorgestellt. Er war enttäuscht, und das schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Nachdem er heute Morgen in Ashdod eingetroffen war, hatte er von dem alten Rabbiner Zacharias erfahren, dass die Tetrarchin abgereist sei und erst in einigen Wochen zurückerwartet würde. Da war er zum

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