Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
während sie neben Timon zum gyneikon spazierte, war ihr langsam heiß geworden, was sonst nie passierte. Im Gegenteil – normalerweise hatte sie sogar an schweißtreibenden Sommertagen oft kalte Hände. Nun jedoch …
Es musste an dem neu erworbenen, aufregenden Wissen liegen. Was Timon ihr von Baustilen erzählt hatte, konnte sie erst gar nicht fassen. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wieso bestimmte Gebäude so und nicht anders gebaut worden waren. Die Unterschiede waren ihr nie aufgefallen. Jetzt aber begriff sie, dass manche der Paläste und Häuser im schlichten dorischen Stil, andere im eleganten ionischen Stil und wieder andere im verspielten, kunstvollen korinthischen Stil erbaut waren und dass die Wahl des Stils häufig mit einer bestimmten Region und historischen Tatsachen zusammenhing. Anhand der Säulen konnte sie also Rückschlüsse auf den Entstehungszeitpunkt des Gebäudes und eventuell auch auf die Herkunft und politische Ausrichtung seines Erbauers ziehen. Das war unerhört spannend, viel fesselnder als der Unterricht des Zacharias und sogar als manche der Lektionen ihrer Großtante. Es kam ihr so vor, als sei mit diesem kurzen Kursus über Architektur das Tor zu einer ganz neuen Welt des Wissens aufgestoßen worden, in der es von Künsten und Wissenschaften nur so wimmelte. Korinthische Säulen waren dabei nur eine Winzigkeit, ein fast nebensächliches Detail im Vergleich zu dem, was es von dieser Welt noch zu erforschen gab.
Timon kannte dies alles offensichtlich. Er hatte Rom gesehen und war über das Meer gefahren. Obwohl noch jung, war er bereits ein Reisender. Wohin würde sein Weg ihn noch führen? In das Land der Pyramiden, nach Babylon, auf den Ätna? Orte, die ihr Vater ihr genannt hatte, über die sie allerdings so gut wie nichts wusste. Als Grieche konnte Timon ihr auch etwas über sein Volk erzählen, denn am Hof von Ashdod erfuhr man wenig über das Leben außerhalb der Tetrarchie. Über Nichtjuden wurde sowieso nie gesprochen, weder über die Sklaven aus Persien und Afrika noch über die Griechen. Nicht einmal die Tetrarchin war in diesen Dingen bewandert. Da war Timon, der Hellene, wie ein Buch, das beredte Auskunft über alle Neuigkeiten geben konnte und doch gleichzeitig geheimnisvoll war.
Außer dem für sein Alter enormen Wissen und seiner Erfahrung und der Aura des Geheimnisses war da noch etwas anderes, das sie zu ihm hinzog, ja, das sie zum ersten Mal überhaupt an jemandem interessierte. Während er sich ausgiebig im gyneikon umsah, ließ sie ihn kaum aus den Augen. Misstrauen war dafür nicht der Grund. Etwas an ihm gefiel ihr. Eigentlich gefiel ihr alles an ihm. Er war ein wenig klein, doch das hatte den Vorteil, dass sie ihm direkt in die Augen blicken konnte. Nett war er auch. Nicht nur zu ihr, sondern überhaupt, das spürte sie. Das alles war mehr, als sie von den anderen Jungen des Hofes gewöhnt war und sagen konnte. Timon war überhaupt – nun ja, irgendwie anders.
»Bist du eigentlich die Enkelin der Tetrarchin?«, fragte er, während er ziellos hin und her schlenderte und jeden Gegenstand wenigstens einmal kurz in die Hand nahm.
»Die Großnichte. Aber sie hat mich so lieb wie eine Tochter.«
Timon sah nachdenklich aus, als er sagte: »Sie ist wohl ziemlich ehrgeizig, was?«
»Ja, sehr. Eine Frau wie sie findet man so schnell nicht wieder.«
»Überlässt wohl nichts dem Zufall, oder?«
»Bestimmt nicht.«
»Zupackend?«
»Ohne weiteres.«
»Mit Verbindungen in die ganze Welt?«
»Und darüber hinaus.«
Sie lachten, und in diesem Augenblick blickte Salome in seine blauen Augen, die sie wie zwei Strudel anzogen. Sie hätte sich am liebsten eine ganze Stunde in sie versenkt, das war jedoch aus Gründen des Anstands völlig unmöglich.
»Wenn du lange genug bei uns bleibst, lernst du sie persönlich kennen. Wie lange hattest du vor zu bleiben?«, fragte sie.
»Das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Auf … na ja, ich weiß nicht. Ich …« Er schien nicht die richtigen Worte zu finden, denn seine Versuche einer Erklärung blieben ihm allesamt in der Kehle stecken. Schließlich sagte er: »Deine Großtante möchte ich jedenfalls um nichts auf der Welt verpassen.«
Salome ertappte sich dabei, wie sie sich wünschte, ihre Großtante käme so bald nicht aus Rom zurück.
Sie bemerkte, dass Timon fror. Während er sich umsah, rieb er die Hände, und auf seinen Oberarmen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Kein Wunder, denn seine
Weitere Kostenlose Bücher