Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
griechische Tunika war an Armen und Beinen viel kürzer als die jüdischen.
Einem plötzlichen Impuls nachgebend, streckte sie ihre Hand aus und berührte damit seinen Arm. »Du bist ganz kalt«, sagte sie fürsorglich.
Ihre Berührung schien ihn zu überraschen, mit Recht. Was hatte sie sich nur dabei gedacht! Sie war im heiratsfähigen Alter, und da war es ihr verboten, junge Männer zu berühren, außer an den Handflächen. So manches Mädchen ihres Alters war wegen ähnlicher Vergehen gegen den Anstand rasch an einen anderen Mann zwangsverheiratet worden, um es vor weiteren Versuchungen zu schützen.
Sofort zuckte sie zurück. »Entschuldigung. Ich … ich wollte nicht …« Sie spürte, wie ihr alter Bekannter sich wieder in Erinnerung brachte – der Husten. Er stieg wie immer langsam auf, begann zaghaft und steigerte sich zu einem Trommelwirbel. Sie hustete heftig, wendete sich ab, hielt die Hand vor den Mund. So sehr sie auch wollte, sie konnte den Husten nicht unterdrücken.
Wieso jetzt, dachte sie. Wieso ausgerechnet jetzt?
Schließlich ebbte der Husten ab, aber der Schaden war angerichtet. Eine gute Figur hatte sie eben bestimmt nicht abgegeben.
Sie räusperte sich. »Ich hätte dich nicht anfassen dürfen. Es tut mir wirklich Leid.«
»Schon gut«, sagte Timon. »Das macht doch nichts.«
»Bitte, erzähle niemandem davon.«
»Das war doch nicht schlimm. Römische Mädchen machen so etwas andauernd.«
»Hier ist es anders.«
»Gut, ich werde nichts sagen«, versprach Timon ein wenig abwesend und blickte sich um. »Gibt es nicht einen Raum, in dem deine Großtante normalerweise arbeitet? Wo sie Dokumente aufbewahrt und so weiter?«
Salome wies auf eine entfernte Tür, vor der ein Soldat stand. »Dort drüben regiert sie. Doch diesen Raum darf niemand betreten. Er ist ständig bewacht. Wieso fragst du?«
»Nur so«, murmelte Timon enttäuscht. »Lass uns gehen. Mir ist tatsächlich kalt.«
Sie redeten noch über einige belanglose Dinge, und als sie wieder auf dem Hof waren, trennten sie sich ohne viele Worte.
Auf dem Weg zu den Gemächern ihrer Mutter dachte Salome unentwegt an ihre Begegnung mit Timon und lächelte selig vor sich hin.
Plötzlich jedoch durchzuckte sie ein beunruhigender Gedanke: Konnte jemand wie Timon sie überhaupt mögen? Sie fuhr sich mit der linken Hand über die immer noch dünnen Haare, strich über ihre unreine Gesichtshaut, über die ungefärbten Lippen, die schmucklose, braune Tunika, die sachten Wölbungen der Brust und schließlich über die Finger der rechten Hand. Die Berührung hatte Timon wenig ausgemacht, zu wenig. Was genau waren seine Worte gewesen? Nicht schlimm hatte er ihre zarte Geste genannt. Und im nächsten Atemzug über römische Mädchen geredet. Das war nicht gerade taktvoll gewesen, fand sie. Doch nicht genug damit, schenkte er dem Vorfall keine weitere Bedeutung und interessierte sich nur noch für die blöde Tür mit der Wache.
Der Husten! Der Husten musste es gewesen sein, er verdarb alles. Er ließ sie schlecht schlafen, weshalb sie ständig so blass war, und weil sie so blass war, bekam sie immerzu Ausschläge, und darum musste sie die unvorteilhaften Tuniken tragen, die alles verbergen konnten. Wie dumm sie doch gewesen war! Was konnte ein Junge wie er schon mit einem Mädchen wie ihr anfangen? Sie stampfte mit dem Fuß auf und rannte zu ihren Gemächern. Dort angekommen, ging sie ohne Umweg in ihr Zimmer und warf sich bäuchlings auf das Bett.
Am nächsten Morgen erwachte sie sehr früh, ging gleich darauf zum Fenster und öffnete den Laden. Die Sonne stieg soeben golden über den Hainen auf. Noch schwebte ein matter Dunst über den Hügeln, noch hüpften die Vögel munter von Ast zu Ast, noch kühlte ein leiser Wind die Luft, doch Salome wusste, dass dieser Tag einer der heißesten in diesem Jahr würde. Es war der Monat tamuz , in dem die Landschaft vom Vormittag bis in den Abend hinein flimmerte und die Sklaven unaufhörlich das Wasser aus den Zisternen in die Bewässerungskanäle füllten. Jede einzelne Pflanze benötigte an solchen Tagen vier Eimer des kostbaren Nass’ – einen zum Überleben, die drei anderen für eine reiche Ernte in einigen Monaten. Die Sklaven selbst erhielten täglich drei Kellen des Brunnenwassers, nahmen sie sich mehr, wurden sie auf Anordnung der Tetrarchin nicht mit Peitschenhieben bestraft, die unweigerlich laute Schreie zur Folge gehabt hätten, die wiederum das Hofleben gestört hätten.
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