Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Stattdessen flößte man ihnen drei Kellen Meerwasser in den Schlund und gab ihnen am selben und am nächsten Tag keinen Tropfen Süßwasser. Danach machten sie so etwas nie wieder.
Die erste Gruppe der Sklaven schlurfte unter Salomes Fenster soeben zur Arbeit. Sie trat zurück, denn in ihrem hauchdünnen Nachtgewand durfte man sie nicht sehen. Sie setzte sich auf das Bett und begann, ihre Haare zu kämmen. Einen Spiegeltisch besaß sie ebensowenig wie eine Dienerin, die ihr zur Hand gehen konnte. Es war ihr eigener Wunsch gewesen, denn wofür hätte sie beides gebraucht? Ein paar Haare kämmen? Eine schmucklose Tunika überziehen? Das konnte sie auch allein und ersparte sich auf diese Weise die mitleidigen oder höhnischen Blicke der hübschen persischen Sklavinnen.
Sie tauchte ihr Gesicht kurz in die am Vorabend bereitgestellte Wasserschüssel, rieb sich mit einem nassen Tuch den ganzen Körper ab und setzte sich wieder auf das Bett.
Sie seufzte. Heute war Unterrichtstag. Wie lange hatte sie damals darauf gehofft, wie viele Nächte einsamen Studiums darauf hingearbeitet! Doch jetzt, wo es so weit war, wo sie alles das lernen durfte, was man Jungen beibrachte, konnte sie sich kaum noch darüber freuen. Timon wusste weitaus mehr, obwohl er fast gleich alt war. Wenn er einen Baum anblickte, war das etwas anderes, als wenn sie das tat, denn er wusste etwas über diesen Baum, sie nicht. Und in der Schule würde ihr auch nie jemand etwas darüber erzählen.
Du wolltest aufhören, an ihn zu denken, ermahnte sie sich.
Vielleicht durfte sie den Maßstab nicht zu hoch anlegen. Verglichen mit Berenike wusste sie viel, und gestern Morgen war sie darauf noch stolz gewesen. Heute, nur einen Tag später, beneidete sie ihre Freundin, denn Berenike war ein hübsches Mädchen. In den letzten Jahren hatte sie sich damit abgefunden, niemals schön zu werden, ja, sie wollte überhaupt nicht so schön wie Berenike sein, wenn das bedeutete, dass mürrische alte Männer eines Tages um sie werben würden. Doch mit einem Mal störte sie ihr Aussehen.
Sie schlüpfte in die Tunika und ging in den Speiseraum, wo das Obst bereits angerichtet war, das ihre Mutter und sie allmorgendlich zum Frühstück aßen. Pfirsiche, Feigen und Kirschen waren zu bunten Hügeln aufgeschichtet. Salome nahm sich von allem etwas und knabberte, in Gedanken versunken, an den Früchten herum.
Sie wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war, als ihre Mutter hereinkam; es musste eine ganze Weile gewesen sein, denn Herodias stand nie früh auf. Sie hatte den vergangenen Abend auf einer Gesellschaft in Ashdod verbracht und wie immer bei solchen Vergnügungen viel Wein getrunken. Ohne einen Gruß setzte Herodias sich hin, griff nach dem Krug Wasser, schenkte sich einen ersten Becher ein, trank ihn in einem Zug leer, schenkte sich einen zweiten ein, trank diesen ebenso schnell leer, und erst nach dem dritten ächzte sie erleichtert auf. Jetzt erst sah sie Salome an.
»Liebes«, sagte sie mit rauer Stimme, aber um ein Lächeln bemüht. »Du bist ja schon munter.«
»Der Unterricht, Mutter.«
»Ach ja, richtig«, erinnerte sie sich und zog ein Gesicht wie zu einer alten Geschichte. Sie brachte noch immer kein Verständnis für Salomes Wunsch nach Gelehrsamkeit auf, hatte jedoch nichts dagegen, denn der Tetrarchin schien diese spröde Neigung nach Wissen zu gefallen.
»Musst du dich nicht beeilen?«, fragte sie.
»Eigentlich schon«, räumte Salome ein. »Doch etwas anderes ist wichtiger.«
Herodias zog die Augenbrauen hoch und fragte: »Wichtiger als Unterricht? Was könnte dir wohl wichtiger sein als der soundsovielte Psalm des soundsovielten Buches des soundsovielten Propheten?«
»Meine Haare, zum Beispiel.«
»Deine …« Herodias stellte ihren Becher ab. »Sag das noch einmal.«
»Meine Haare. Meine Haut. Meine Tunika.«
Herodias reckte ihre Arme in die Höhe. »Verzeih mir, Herr, dass ich ungläubig war. Du hast über Nacht ein Wunder geschehen lassen.«
Salome lächelte ihre Mutter verschämt an. »Lass das doch, Mutter. Es ist kein Wunder geschehen, sondern …«
»Sondern was?«
»Na ja …«
Herodias stand langsam auf, ohne die Augen Salomes auch nur für einen Moment aus dem Blick zu verlieren. Sie ging um den Tisch herum, stellte sich hinter Salomes Stuhl und strich ihr mit beiden Händen über die nach hinten gekämmten Haare.
»Sieh mal an«, sagte sie. »So ist das also.«
»Ich kann es erklären, Mama.«
Herodias lächelte
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