Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Angst war, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, Salome alles zu erklären. Sie würde glauben, er habe sie ausgenutzt, und eigentlich hatte sie damit auch Recht. Sie würde auch glauben, dass er sie nie geliebt habe, und diese Vorstellung tat weh: zu gehen, ohne die Wahrheit sagen zu können.
Es war schwieriger, als er dachte, den Dolch unauffällig in der Kleidung zu verstecken. Die warmen Temperaturen ließen eine langärmelige Tunika nicht zu, das könnte Verdacht erregen. Er trug nur eine griechische Tunika, die weit über den Knien endete und sogar eine Schulter und die linke Brust freiließ. Endlich kam er auf die Idee, den Dolch zwischen Gürtelband und Tunika zu stecken, und zwar in seinem Rücken. Einige Falten darüber gelegt und schon …
»Grieche«, rief eine Stimme von hinten. Es war einer der Diener, die hier mit ihm wohnten.
Er wirbelte herum. »J-Ja?« Hatte der Kerl etwas gesehen? Es schien nicht so.
»Ich habe dich schon gesucht. Warum hast du nicht vor dem gyneikon gewartet? Du sollst der Tetrarchin vorgestellt werden.«
Timon atmete tief durch. »Ich komme«, sagte er.
Salome zuckte zusammen, als sie Timon hereinkommen sah. Er blickte ernst, so wie damals, als sie über den Mann auf der Zeichnung gesprochen hatten.
Timon blieb in einiger Entfernung stehen und verneigte sich leicht, so wie es vorgeschrieben war. Er benahm sich vorbildlich.
Die Tetrarchin nickte zur Begrüßung. Sie saß auf ihrem Schemel, Salome stand links einen Schritt neben ihr.
»Komm näher«, rief Akme.
Timon zögerte einen winzigen Augenblick, dann schritt er langsam auf die Tetrarchin zu.
Salome ließ Timon nicht aus den Augen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Nie hatte sie ihn stärker geliebt als jetzt, wo nichts mehr zwischen ihnen stand.
Es war nicht abgesprochen gewesen, und das Protokoll ließ so etwas nicht zu, aber sie gab einem Instinkt nach und ging Timon entgegen.
»Bleib zurück«, rief Akme.
Sie blieb stehen, streckte die Hände nach Timon aus. Sie sagte seinen Namen, ihre Stimme war halb erstickt. »Ich – habe ihr von der Zeichnung erzählt«, fuhr sie fort. »Von dem Mann.«
Timon warf ihr nur noch einen flüchtigen Blick zu, dann rannte er los, zückte einen Dolch und rief etwas auf Griechisch, das Salome nicht richtig verstehen konnte.
»Verhaftet ihn«, schrie die Tetrarchin, und im gleichen Moment brachte eine Wache Timon zu Fall. Er stieß sie weg, doch eine zweite kam hinzu, dann eine dritte.
»Timon!« Salome rannte zu ihm, blieb aber machtlos vor den kämpfenden Männern stehen. »Timon«, rief sie noch einmal.
Mit letzter Kraft konnte Timon einen Arm freimachen und schleuderte den Dolch gegen die Tetrarchin, doch er war schlecht geworfen und verfehlte sein Ziel. Eine Wache rammte einen Schwertknauf in Timons Nacken. Bewusstlos brach er zusammen.
Salome starrte in die Dunkelheit, die sie umgab. Die Läden waren geschlossen, die Öllampen verloschen. Die Neumondnacht ließ nicht den geringsten Lichtschimmer durch die Ritzen dringen. Kopfschmerzen und Fieber hatten sie befallen, Vorwürfe plagten sie, zuerst an sich selbst gerichtet, wegen des gebrochenen Versprechens, dann an Timon, weil er die Großtante ermorden wollte, als Nächstes gegenüber Herodias, der Timons Schicksal völlig gleichgültig war, die nur an das Erbe dachte. Aber dachte sie nicht selbst daran? Hatte sie die Aussicht, Fürstin zu werden, nicht dazu gebracht, Timon zu verraten? Eine Weile tröstete sie sich damit, nicht gewusst zu haben, was sie anrichtete. Das hielt jedoch nicht lange vor.
Irgendwo, dachte sie, hatte ich es doch gewusst. Sie wusste, dass es ein Geheimnis gab, wusste, dass Timon seltsame Fragen über Akme gestellt hatte, und wusste, dass beides zusammenhing. Sie hatte es nicht wissen wollen und sich gegen den Gedanken gewehrt, dass es Timon überhaupt nicht um sie ging, sondern um etwas anderes. Und sie wehrte sich auch jetzt noch dagegen.
Doch schließlich war sie auch zum Denken zu schwach. Sie dachte gar nichts mehr, bewegte sich kaum, trank nichts vom bereitgestellten Wasser, obwohl sie durstig war, öffnete nicht den Fensterladen, obwohl die träge Zimmerluft wie eine schwere Decke auf ihrer Brust lastete. Es gab nur die Dunkelheit und sie, Stunde für Stunde.
Als die Stille der Nacht wich und die Geräusche des Tages auch in ihre kleine, düstere Welt drangen, erwachte auch Salome aus ihrer Apathie. Das Erste, was sie dachte, war, dass
Weitere Kostenlose Bücher