Die Schlucht
betören.
»Was kann ich für Sie tun, Mr Tweed?«, säuselte sie in süßlichem Ton.
»Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie Ihre Jacke wieder anziehen und ordentlich zuknöpfen würden. Und dann erzählen Sie mir bitte, wie gut Sie die beiden Toten gekannt haben, die heute vor den Häusern neben dem Ihren gefunden wurden.«
»Ich habe sie kaum gekannt«, antwortete sie mürrisch, als sie wieder in ihre Jacke schlüpfte und sie bis oben hin zuknöpfte.
»Und Sie glauben, dass ich Ihnen abnehme, dass Sie sich kein einziges Mal mit ihnen unterhalten haben? Immerhin waren sie Ihre Nachbarn.«
»Das habe ich nicht behauptet. Einmal bin ich spätabends von der Arbeit nach Hause gekommen. Vor mir ging diejenige der beiden Frauen, die in dem Haus um die Ecke wohnte. Als ich an ihrer Tür vorbeikam, schien sie Schwierigkeiten mit dem Aufschließen zu haben. Ich bin stehengeblieben und habe sie gefragt, ob ich ihr helfen könnte, aber sie hat dankend abgelehnt und nur gemurmelt, dass sie ihr Schloss oft nicht aufkriege. Kurz drauf hat sie es doch geschafft und ist im Haus verschwunden.«
»Haben sich die beiden Opfer gekannt?«
»Wohl schon. Eines Abends habe ich sie nebeneinander die Straße entlanggehen sehen. Vielleicht waren sie ja zusammen im Theater gewesen oder so.«
Lisas Ton war hart und feindselig geworden, und auf ihrem Gesicht war das einladende Lächeln erstorben. Ihre auf dem Schoß verschränkten Hände fingen an, leicht zu zittern.
»Leben Ihre Eltern eigentlich auch in London?«, wechselte Tweed das Thema.
»Keinesfalls«, erwiderte Lisa schnippisch. »Sie kamen beide vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben …«
»Und wo wurden Sie geboren?«
»In Cutwick, einem kleinen Dorf in Hampshire«, erwiderte Lisa wie aus der Pistole geschossen. Offenbar hatte sie die Frage erwartet. »Und jetzt, Mr Tweed, würde ich Sie bitten zu gehen.«
Tweed und Paula standen auf.
»Passen Sie auf sich auf, Lisa«, sagte er mit besorgtem Gesicht. »Müssen Sie heute noch arbeiten?«
»Ich habe bei Rumble, Crowther and Nicholas angerufen und gesagt, dass ich mich nicht wohlfühle und vielleicht eine Grippe bekomme.«
»Das war schlau. Ich würde Ihnen dringend raten, heute nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Haben Sie denn genug zu essen da?«
»Ich kann Ihnen gern meinen Kühlschrank zeigen. Der ist so proppenvoll, dass ich mindestens zehn Tage lang überleben kann, ohne zum Einkaufen zu gehen.« Ihre Stimme hatte einen sarkastischen Unterton. »Sie müssen sich entsprechend keine Sorgen um mich machen.«
Lisa brachte sie noch zur Tür, sagte aber kein Wort mehr.
Als sie wieder auf der Straße waren, seufzte Paula erleichtert auf.
»Die haben Sie ganz schön in die Mangel genommen«, sagte sie. »Aber viel aus ihr herausbekommen haben Sie nicht.«
»Sie ist eine harte Nuss. Aber irgendwann werde ich sie schon knacken.«
Während sie sich noch unterhielten, bog in einiger Entfernung ein Rolls-Royce um die Ecke, näherte sich, wurde langsamer und fuhr schließlich im Schritttempo an Lisa Clancys Haus vorbei. Die hinteren Fenster waren dunkel getönt, so dass man den Fahrgast im Fond des Wagens lediglich schemenhaft erkennen konnte. Erst als der Rolls-Royce am Haus des zweiten Opfers vorüber war, beschleunigte der livrierte Chauffeur wieder.
»Ich habe mir das Kennzeichen gemerkt«, sagte Paula. »Ich rufe gleich übers Handy in Swansea an und lasse den Halter ermitteln.«
»Das können Sie auch in der Park Crescent machen«, erwiderte Tweed. »Da fahren wir jetzt nämlich hin.«
»Dieser Rolls-Royce war irgendwie unheimlich«, sagte Paula nachdenklich, als sie wieder im Auto saßen. »Ich wüsste zu gern, wer sich da hinter getönten Scheiben herumkutschieren lässt.«
4
Als sie wieder in der Park Crescent ankamen, waren dort alle Mitglieder von Tweeds Team versammelt. Alle, bis auf Harry Butler. Bob Newman, der früher einmal ein berühmter Reporter gewesen war, saß verkehrt herum auf einem Holzstuhl, die Arme über der Lehne verschränkt. Er war Anfang vierzig, groß und durchtrainiert und so gut aussehend, dass sich nicht selten eine elegante Frau auf der Straße nach ihm umdrehte. Als Paula ins Büro kam, stand er auf und gab ihr die Hand.
»Immer in Eile, was?«, neckte er sie.
An der Wand neben Paulas Schreibtisch lehnte Marler und rauchte eine Kingsize-Zigarette. Er war ein hoch aufgeschossener Mann, mit dunklem, perfekt gekämmtem Haar und einem intelligenten Gesicht, auf dem ein
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