Die Schlucht
Merton, nachdem ihm New-man dieselbe Frage gestellt hatte wie den anderen drei Informanten zuvor. »Und an Ihrer Stelle würde ich jetzt nicht gleich zur Bar hinüberschauen.«
Obwohl Merton ziemlich gebildet war, konnte er mit den sozial nicht gerade hochgestellten Gästen des Pubs so reden, als wäre er einer von ihnen. Er nahm einen Schluck von seinem Brandy und fuhr dann fort: »Da drüben an der Bar steht ein Mann, der sich gerade Champagner bestellt. Er heißt Lepard - der Vater war Franzose, die Mutter Engländerin - und hat mindestens schon zwei Morde auf dem Kerbholz, einen hier und einen in Paris. In beiden Prozessen haben sie ihn wegen verfahrenstechnischer Fehler nicht hinter Gitter schicken können. Es heißt, dass er jetzt wieder angeheuert wurde, um jemanden ins Jenseits zu befördern.«
»Und haben Sie eine Ahnung, auf wen er es abgesehen haben könnte?«, fragte Newmann.
»Nicht den blassesten Schimmer. Aber jetzt sollten Sie besser die Fliege machen - Lepard kommt mit seinem Champagner direkt auf uns zu.«
Newman schob Mr Merton einen zusammengefalteten Zwanzigpfundschein zu, stand auf und ging, noch immer an seinem Apfel kauend, zur Tür. Dabei gelang es ihm, in einem Spiegel über der Tür einen Blick auf Lepard zu erhaschen. Der Mann trug eine teure Lederjacke und weite Cordhosen und hatte einen gemeinen Ausdruck auf seinem blassen, ungesund aussehenden Gesicht, der Newman überhaupt nicht gefiel.
Draußen hielt Newman ein Taxi an und sagte dem Fahrer, er solle ihn in die Euston Road bringen. In dieser Gegend war es nicht ratsam, die Park Crescent zu erwähnen.
Es dämmerte bereits, als Paula und Marler zurück ins Büro kamen. Paula erzählte Tweed kurz, was sie am Finden Square beobachtet hatten.
»Sind Sie sicher, dass es der Rolls-Royce war, den wir an den Häusern der Mordopfer haben vorbeifahren sehen?«, fragte er.
»Ziemlich sicher.«
»Aber das Kennzeichen des Rolls-Royce am Finden Square haben Sie nicht gesehen, oder?«
»Nein, ich konnte es nicht erkennen. Ich habe den Wagen nur von der Seite gesehen.«
»Dann ist es also mehr eine Vermutung als eine Tatsache?«
»Nennen Sie es weibliche Intuition«, entgegnete Paula.
»Und diese Intuition hat Paula nur selten getrogen«, sprang Marler ihr bei.
»Das kann ich bestätigen«, stimmte Tweed zu. Er zündete sich eine Zigarette an, was er nur selten tat. »Mittlerweile haben wir diverse Spuren, die wir verfolgen könnten, aber bisher scheinen sie in keinerlei Verbindung miteinander zu stehen …«
Er hörte auf zu sprechen, als Newman die Tür öffnete, den Raum durchquerte und sich neben Marler auf den Rand von Paulas Schreibtisch setzte. Er zeigte Tweed seine leeren Handflächen zum Zeichen, dass er so gut wie nichts erreicht hatte, und berichtete kurz von den Gesprächen mit seinen Informanten.
»Das bringt uns aber auch nicht viel weiter, oder?«, fragte er, als er damit fertig war.
»Lediglich der Hinweis auf diesen Lepard könnte interessant sein«, bemerkte Tweed.
»Richtig, aber mit den beiden Frauenmorden hat er vermutlich nichts zu tun. Die Art, wie die beiden Leichen verstümmelt wurden, passt nicht zu einem Profikiller.«
»Wer weiß?«, sagte Tweed freundlich. »Man kann in einen Menschen nicht hineinschauen.« Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Und wie gehen wir jetzt weiter vor?«, fragte Paula.
»Als Erstes würde ich vorschlagen, dass wir alle früh nach Hause gehen und gründlich ausschlafen. Vielleicht haben wir ja morgen schon eine brauchbare Spur.«
Tweed ahnte nicht, wie sehr sich seine Aussage bewahrheiten sollte und wie dringend sie am nächsten Tag all ihre Kräfte brauchen würden.
5
Obwohl Tweed am nächsten Morgen früher als gewohnt in sein Büro kam, war dort bereits fast sein gesamtes Team versammelt. Nur Butler fehlte wieder einmal. Als Tweed seinen Kamelhaarmantel an den Kleiderständer hängte, blickte er durch die Fenster hinaus auf den von der Morgensonne beschienenen Regent's Park. Es war wieder ein herrlicher Frühlingstag.
Monika wartete, bis er an seinem Schreibtisch saß, dann sagte sie: »Unten im Warteraum sitzt ein Besucher für Sie. Ein gewisser Hector Humble.«
»Und warum haben Sie ihn nicht heraufgebeten?«
»Weil er lieber unten warten wollte, bis Sie da sind. Er ließ sich nicht davon abbringen.«
»Dann können Sie George jetzt sagen, dass er ihn heraufbringen soll.« Tweed seufzte. »Wahrscheinlich will er mir bloß sagen, dass ich mit dem
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