Die Schlüssel zum Königreich 02 - Grimmiger Dienstag
bald darauf in den aufsteigenden Schatten verschwunden.
Es hatte auch wieder zu regnen begonnen, vereinzelte Tropfen, die noch kein Nichts mit sich führten. Die Wolken breiteten sich von den Rändern der Grube her aus und schoben sich langsam auf den verblassenden Sonnenball zu.
Arthur rührte sich nicht, während Susi mit einem kleinen, scharfen Messer durch seinen Umhang und sein Hemd schnitt. Es war das Messer, das sie schon in Montags Vorzimmer bei sich gehabt hatte. Dieses Stillstehen, während Susi hinter ihm arbeitete, erinnerte Arthur unangenehm an seine Krankenhausaufenthalte und an die Spritzen in den Oberarm.
Nachdem sie die Schlitze in seine Kleider gemacht hatte, nahm Susi eines der Papierstücke, faltete es rasch und zerriss es in zwei getrennte Flügel. Während sie damit beschäftigt war, wurde das Papier zusehends bauschiger und flaumiger.
»Leg dich auf den Bauch!«, wies sie Arthur an. Er gehorchte und reckte den Hals, um zu sehen, was sie machte.
Susi legte die Flügel auf den Boden und beschwerte sie mit Bettungsmaterial. Dann entrollte sie zwei der Schnurknäuel und legte sie griffbereit daneben. Schließlich nahm sie das Siegelwachs und die Streichhölzer zur Hand.
»Das wird ein bisschen wehtun«, warnte sie ihn und zog eines der Hölzer über den Boden. Es entzündete sich fauchend, und eine armlange Stichflamme schoss auf.
»Runter«, sagte Susi. Die Flamme wurde kleiner. »Noch weiter runter. So ist gut.«
Arthur konnte nicht sehen, was sie als Nächstes tat, aber er fühlte es. Ein heißer Tropfen Siegelwachs fiel auf sein Schulterblatt, dann spürte er den Papierflügel über seinen Rücken streichen und die Schnur an seinem Hals baumeln. Susi drückte den Daumen fest auf das Wachs.
»Nicht bewegen!«, warnte sie ihn. »Muss den nächsten schnell befestigen, sonst wachsen sie ungleichmäßig.«
Als ihm das heiße Wachs auf das andere Schulterblatt tropfte, biss er die Zähne zusammen, um nicht zu wimmern. Es war schlimmer, als er erwartet hatte, aber der Schmerz ging schnell vorbei.
»Geschafft!«, erklärte Susi befriedigt. »Es dauert ungefähr zehn Minuten, bis sie ihre volle Größe haben. In der Zeit werde ich meine vorbereiten, und du kannst sie mir ankleben.«
»Ich weiß doch gar nicht wie!«, protestierte Arthur.
»Es ist simpel«, entgegnete Susi, während sie das verbleibende Papier geschickt faltete und zu einem Paar Flügel zerriss. »Mach einfach das Wachs heiß, lass ein bisschen davon auf meine Schulter tropfen, klatsch den Flügel und die Schnur drauf, und versiegele es dann mit deinem Daumen. Löcher brauchst du nicht zu schneiden, die sind schon von den anderen Flügeln in meinen Kleidern.«
»Na gut«, sagte Arthur zweifelnd. Er nahm die Flügel, beschwerte sie mit demselben Bettungsmaterial und legte die Schnur daneben. Dann nahm er die Zündhölzer in die Hand. Sie sahen ganz gewöhnlich aus, wenn man einmal von dem Bild auf der Schachtel absah.
»Beeil dich!«, drängte Susi, die auf dem Boden lag und sich durch die Flügellöcher am Rücken kratzte. »Dieser Stein ist verdammt kalt.«
Arthur zog den Streichholzkopf über den Boden und zuckte zusammen, als die Flamme aufschoss. Sie war noch länger als bei Susi und flackerte so wild, dass es kaum am Wind liegen konnte. Sie schien sogar ein winziges, grinsendes Gesicht zu haben.
»Runter«, befahl Arthur, »ein ganzes Stück runter!«
Die Flamme wurde langsam kleiner; ihr Gesicht verlor das Grinsen und nahm einen traurigen Ausdruck an. Als sie nur noch zwei oder drei Zentimeter groß war, nahm Arthur den Siegelwachsstab, hielt sein Ende ins Feuer und ließ eine Pfütze auf Susis Rücken tropfen. Weil er nervös war, landete nicht alles Wachs genau auf der richtigen Stelle; etwas davon fiel auf ihren Gehrock. Arthur ließ noch ein bisschen mehr heruntertropfen.
»Warum dauert das so lange?«, fragte Susi. »Das ist doch kein komplizierter Spruch oder so was!«
Arthur runzelte die Stirn und träufelte noch einmal großzügig Wachs auf ihre Haut, dann drückte er den Flügel und das Garn darauf, gab noch etwas Wachs darüber und presste ihn mit dem Daumen fest. Er hatte erwartet, dass das in der warmen Masse einen Abdruck hinterlassen würde, aber das geschah nicht. Stattdessen erglühte das Wachs in allen Regenbogenfarben und formte sich zu einem perfekten runden Siegel, auf dem das Profil seines eigenen, lorbeerbekränzten Kopfes zu sehen war, umgeben von fremden Schriftzeichen. Die verwandelten
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