Die Schluesseltraegerin - Roman
nicht Ansgar, dachte sie bei sich. Ihre anfängliche Belustigung war rasch verflogen und hatte einem Gefühl von Mitleid und auch leichtem Entsetzen Platz gemacht.
Dieser Mann, einst so stark, stolz und unnahbar, hatte nichts mehr von einem tapferen Krieger, sondern glich nun mehr einem gefräßigen Bergtroll. Ja, seine einst so schönen, ebenmäßigen Gesichtszüge waren völlig entgleist, die Augen glotzten blöd, die Nase lief beständig, und auch aus dem stets geöffneten Mund fand ein unerschöpfliches Rinnsal seinen Weg über das bärtige Kinn, den Hals hinunter, bis auf sein leinenes Gewand, welches demzufolge auf der Brust einen niemals trocknenden, großen, nassen Fleck aufwies.
Unwillkürlich streichelte Inga dem Mann über sein rotblondes, ungekämmtes, viel zu langes Haar. Das war also der Mann, dem sie eine Zeitlang so nahe gewesen war, der sie in kalten Nächten gewärmt, der sie begehrt und den auch sie – das musste sie sich eingestehen – begehrt hatte. Aber von ihm war nichts mehr übrig – nichts mehr, außer der Statur. Wobei – und das musste Inga mit Bedauern feststellen, nachdem sie ihn noch einmal genauer von oben bis unten gemustert hatte – auch die
Statur gelitten hatte. Feist und weich war er in kurzer Zeit geworden, hatte einen dicken Bauch bekommen und ein Doppelkinn. Hunger schienen sie winters wohl doch nicht gelitten zu haben, die Hilgerschen.
»Ach, Ansgar«, flüsterte sie. »Was ist nur mit dir geschehen?«
In diesem Moment blickte er sie an, und Inga hatte den Eindruck, dass seine Augen für kurze Zeit wieder klar geworden waren, ja, es war der alte Blick des Ansgar gewesen. Kalt, aber dennoch verletzlich, herrisch, aber trotzdem unsicher. War er etwa noch da, steckte er noch da irgendwo drinnen, in diesem Troll?
Inga überlegte angestrengt, ob es einen Trank gab, der einen Verwunschenen wieder zu Verstand bringen konnte. Da war etwas. Ihre Großmutter hatte einst einem Mann aus der Talsiedlung geholfen, daran konnte Inga sich erinnern, es war der hinkende Hein gewesen. Hein hatte behauptet, niemand anders als die krumme Gunda – damals noch jünger, aber dennoch krumm – habe ihm auf dem Sommersonnenwendfest heimlich einen Liebestrank verabreicht, und nun wolle er sich von diesem Wahnsinn lösen.
Inga hatte durch eine Spalte in das Grubenhaus geschaut, in dem Hein und ihre Großmutter saßen. Sie hatte alles belauscht und auch gehört, wie die Großmutter sagte, dass sie durchaus einen Gegentrank brauen könne, dass sie aber eigentlich der Überzeugung sei, der hinkende Hein und die krumme Gunda würden im Grunde ein schönes Paar abgeben. Hein hatte ihr nicht zustimmen können und sie gebeten, einen solchen Gegentrank für ihn herzustellen. Einen Trank gegen Liebeszauber.
Aber was hatte er enthalten? Und würde es auch gegen einen solchen Schadenszauber wirken, wie er sich über den armen Ansgar gelegt hatte? Und wenn ja, wollte Inga ihn denn tatsächlich von diesem Zauber befreien?
Nein. Besser war es, er blieb, wie er war, denn zu groß wäre die Gefahr für sie und vor allem für Bero, wenn er tatsächlich wieder zu Verstand kam. Sie gab ihm noch einen Becher heißer Ziegenmilch und bettete ihn dann in sein Lager, wo er nach wenigen Augenblicken selig wie ein Kindlein einschlummerte.
»Ich krieg dich, du Schuft. Ungeschoren kommst du mir nicht davon, Geächteter.«
Zunächst hatte Inga im Halbschlaf gedacht, es wäre die alte Mutter, die wieder einmal ihre unverständlichen Rufe von sich gab, und hatte sich murrend in ihrem Lager wieder umgedreht. Dann aber hatte sie die gleichen Worte ein zweites Mal vernommen, sofort die Augen geöffnet und sich aufgerichtet.
Da saß Ansgar. Stocksteif saß er auf seiner Bank und murmelte – ausgesprochen deutlich – verschiedene Flüche, Drohungen und Verwünschungen vor sich hin.
Inga näherte sich ihm vorsichtig. Die Mutter schlief, und auch von der Bettstatt des Ottmar war dessen eigentümliches lautes Schnarchen zu vernehmen. Das Ofenfeuer glimmte noch, sodass Inga das Gesicht Ansgars erkennen konnte. Seine Augen waren klar. Er war bei sich.
»Ansgar, ich bin es: Inga, die Witwe deines Bruders. Erkennst du mich?«, flüsterte sie mit sanfter Stimme.
»Was machst du hier? Bin ich in der verwunschenen Schmiede?« Und mit verängstigtem Blick sah er sich um.
»Nein, du bist in einer Taverne in Huxori. Dort lebe ich jetzt«, beruhigte ihn Inga und berührte dabei vorsichtig seine riesige, raue Hand.
»Nicht in
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