Die Schmetterlingsinsel
Geschichte Ihrer Familie hat Vorrang.«
»Vielleicht ist die Geschichte meiner Familie ja enger mit dem Hinduismus verknüpft, als ich denke.« Diana seufzte. »Ach, wenn ich doch schon ein wenig mehr Klarheit hätte. Alles, was ich bisher habe, sind Vermutungen und allgemeine Dinge, die noch nichts mit dem Geheimnis zu tun haben.«
»Ich glaube, das ist die Natur von Geheimnissen«, murmelte Jonathan nachdenklich vor sich hin, während sich derselbe Schatten über seine Augen legte, der ihn auch schon bei der Erwähnung seiner Ex-Frau heimgesucht hatte. Hatte er auch ein Geheimnis?
Während Diana ihn beobachtete, stieg in ihr auf einmal das Bedürfnis auf, mehr über ihn zu erfahren. Die Geschichte seiner gescheiterten Ehe und seines Kindes reichte vielleicht einem Fremden, aber mittlerweile hatte sie so viele kleine Eigenheiten an ihm entdeckt, dass sie wissen wollte, wie er sie erworben hatte. Außerdem überkam sie jedes Mal, wenn sie Zeit hatte, länger in seine Augen zu blicken, die Sehnsucht, umarmt und geküsst zu werden – und im Bett wieder einmal zu erleben, was Philipp ihr schon lange nicht mehr gegeben hatte.
Den Rest des Abends saßen sie an einer Art Mindmap, die sie auf eine Serviette kritzelten. Sie trugen alles zusammen, was sie wussten, ergänzten es mit allgemeinen Informationen, und plötzlich hatte Diana wenigstens eine Vorstellung davon, wie das Leben ihrer Vorfahren ausgesehen haben konnte. Das Geheimnis selbst würden sie vielleicht direkt an dem Ort ergründen können, an dem sich die Ereignisse abgespielt hatten.
Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer zog Diana den Prospekt von der Plantage aus der Tasche und faltete ihn so, dass sie die Telefonnummer vor sich hatte. Da morgen Montag war, würden die Angestellten dort sein und sie konnte vielleicht einen Termin ausmachen – vorausgesetzt, der Regen ließ nach.
Beim Betreten des Hotelzimmers hatte sie das geladene Foto beinahe vergessen. Erst als der Bildschirmschoner ein neues Bild anzeigte, fiel es ihr wieder ein.
Der Computer zeigte die Datei als vollständig heruntergeladen an. Als sie sie anklickte, sah Diana zunächst nichts anderes als eine graue und weiße Fläche, die dem Foto von Grace vor der Plantage ähnelte. Dann schärften sich die Pixel zu einer Landschaft, die nichts mit Sri Lanka zu tun hatte. Die Fotografie musste in Europa aufgenommen worden sein, etwa in den Sechzigern, wie der Rand um das Foto und die fehlenden Stockflecken bewiesen. Zu Dianas großem Erstaunen handelte es sich um das Bildnis eines Friedhofes. Eines Friedhofes, dessen Mittelpunkt ein Grabkreuz bildete, das alle anderen überragte.
Schon am nächsten Tag schien Jonathan mit seiner Vermutung, dass der Regenguss noch nicht der Monsun war, recht zu bekommen. Die Wolken lockerten ein wenig auf, bis endlich ein paar Sonnenstrahlen durchdrangen. Der Anblick der glitzernden Tropfen auf dem Laub erinnerten Diana an das Märchen einer Prinzessin, die sich ein Diadem aus Tautropfen wünschte, weil das Wasser wie Edelsteine glitzerte. Emmely hatte ihr dieses Märchen manchmal erzählt, und nachdem Mr Green den Rasen gesprengt hatte, hatte sie sich manchmal vorgestellt, durch einen Garten voller Edelsteinrosen zu wandeln.
Ach Emmely, dachte sie mit Blick auf den Schreibtisch. Warum hast du mir nicht mehr eindeutige Spuren hinterlassen …
Als es klopfte, war sie gerade dabei, ihre Hinweise in eine Plastiktüte zu packen, um sie vor neuerlichem Regen zu schützen. Ein Gefühl sagte ihr, dass es gut sein würde, sie mitzunehmen. Vielleicht passten sie zu dem, was sie auf der Plantage finden würde.
»Herein!«, rief sie, worauf Jonathan im Türgeviert auftauchte. Seine Bekleidung war überaus wandertauglich, über seiner Schulter hing seine kleine Reisetasche. »Was meinen Sie, sollen wir es wagen?«
»Natürlich!«, antwortete Diana. »Wenn wir noch länger warten, wird es nichts mehr. In fünf Tagen geht mein Flug zurück, wir haben also nicht mehr viel Zeit. Außerdem habe ich heute Morgen bei der Plantage angerufen. Die Sekretärin meinte, dass die nächsten Tage günstig seien, denn der Geschäftsführer ist gerade im Haus und könnte mir alles zeigen.«
Jonathan war es gelungen, einen Jeep aufzutreiben, der ihnen den Weg durch den Dschungel ersparte.
»War es auch einer von Ihren Scherzen, als Sie sagten, wir müssten laufen?«, fragte sie ihn skeptisch, nachdem sie eingestiegen war.
»Für gewöhnlich ist es eine hübsche Strecke«,
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