Die Schmetterlingsinsel
ich dort den Engel befestigen konnte! Und wie wir im Winter durch den Wald gelaufen sind und beinahe erfroren wären, weil du dir den Weg nicht gemerkt hast!«
Der vorwurfsvolle Ton ihrer Schwester ließ Grace losprusten. »Wir sind doch gerettet worden. Wie lange willst du mir die Geschichte denn noch vorhalten, Schwesterherz?«
»So lange, bis du aufhörst, daran zu zweifeln, dass ich mich an meine frühe Kindheit erinnern kann!« Auf einmal weiteten sich ihre Augen und sie legte den Pinsel auf ihrer Palette voller Blautöne ab.
»Was ist los?«, fragte Grace und wappnete sich innerlich gegen einen von Victorias Scherzen.
»Mr Vikrama scheint sich ziemlich für moderne Kunst zu interessieren.«
Als Grace herumwirbelte, machte er ertappt einen Schritt nach hinten. Offenbar hatte er sie schon eine Weile beobachtet. Victoria winkte ihm freudig, was er leicht erwiderte, dann nickte er Grace grüßend zu und zog sich wieder zurück. Grace fühlte sich auf einmal wie angewurzelt. Warum konnte sie sich nicht einfach umdrehen und wieder ihrem Bild zuwenden? Warum nur musste sie ständig die Stelle anstarren, an der seine Stiefelabdrücke im Gras langsam verschwanden?
In dieser Nacht erschien Vikrama nicht. Was auch immer er anstellte, schien bei diesem Sturzregen, der wie Geisterfinger auf das Haus und das Laub trommelte, unmöglich zu sein. Grace bedauerte das ein wenig, hatte sie sich doch an sein nächtliches Vorbeistreifen gewöhnt, und die Neugier wuchs mit jedem Mal, da sie ihn zwischen den Büschen verschwinden und schließlich wieder auftauchen sah.
Als der Regen nach einer Woche ein wenig nachließ und der Hof so weit getrocknet war, dass sie sich rauswagen konnte, ohne bis zum Knie im Schlamm zu versinken, lief sie hinüber zu dem Schuppen, in dem die Teeblätter getrocknet wurden. Obwohl die Trocknungsgitter leer waren, fand sie Vikrama dort, der dabei war, die Stabilität des Gebäudes zu kontrollieren. Nach der Regenzeit würde es nicht mehr lange bis zur Ernte dauern. Bis dahin musste alles repariert und auf Vordermann gebracht worden sein.
»Miss Grace!«, rief er überrascht aus, als er sie bemerkte. »Sie hätten eines der Dienstmädchen schicken können, wenn Sie meine Dienste benötigen.«
»Ich bin hier, weil ich Sie etwas fragen wollte. Außerdem fällt mir im Haus die Decke auf den Kopf. In England hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich eines Tages mal so viel Gefallen daran finden würde, draußen zu sein.«
Vikrama lächelte, ließ aber nicht von seiner Arbeit ab. »Ihre Heimat soll recht feucht und kühl sein. Feuchtigkeit haben wir hier auch zu bieten, aber die Temperatur ist wesentlich angenehmer. Sie sollten in den nächsten Tagen unbedingt ein wenig früher aufstehen, dann sehen Sie, wie der Berg und die Teefelder dampfen. Ein wunderschöner Anblick in der Dämmerung.«
»Das habe ich bereits beobachten können«, gab Grace zurück und verstummte. Sollte sie es wagen? Wann würde sich wieder eine Gelegenheit ergeben, ihn danach zu fragen?
»Ich habe Sie neulich nachts zufällig beobachtet«, offenbarte Grace mit klopfendem Herzen. »Jedenfalls glaube ich, dass Sie es waren.«
Vikrama versteifte sich. Jeder Muskel in seinem Körper schien angespannt, während seine Züge sich verhärteten.
»Wohin gehen Sie um diese Zeit in diesem seltsamen Aufzug?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Miss.«
Auf einmal hatte Grace das Gefühl, dass sie besser nichts hätte sagen sollen. Was ging es sie auch an, was Vikrama zu Nachtzeiten machte. Er war Angestellter und hing dem Hinduismus an. Warum bin ich nicht eher darauf gekommen, dass er vielleicht einer heiligen Handlung nachgeht? Vielleicht sollte ich mich besser mit dem Glauben dieses Landes befassen.
Räuspernd zog sie sich zurück. Sie wollte es nicht noch schlimmer machen, als es ohnehin schon war. »Ich glaube, ich gehe lieber wieder.«
»Miss Grace, ich …«
Doch da eilte sie schon mit langen Schritten in Richtung Haus.
Trotz der Erklärung, die sie sich selbst gegeben hatte und die auch plausibel klang, wälzte Grace sich unruhig im Bett hin und her. Sobald sie die Augen schloss, hatte sie den Gesichtsausdruck des jungen Mannes vor sich. Er hatte wütend, aber auch ein wenig ängstlich ausgesehen. So als fürchtete er, ertappt zu werden. Als Tochter des Grundbesitzers hätte sie von ihm natürlich fordern können, sein Geheimnis zu offenbaren, notfalls hätte sie sogar drohen können, ihn zu verraten. Aber das
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