Die Schmetterlingsinsel
schönsten von ihnen sind doch wesentlich kostbarer, wenn man sie durch Zufall mal in den Palmen sieht.«
Auf einmal hatte Grace einen Kloß im Hals. Das Bild des geistesgestörten Vogels ihrer Bekannten kam ihr wieder in den Sinn. Wahrscheinlich war er tatsächlich verrückt – verrückt vor Sehnsucht.
»Aber wenn Ihre Schwester sich einen Papagei mal aus der Nähe ansehen möchte, könnte ich das arrangieren.«
Sein warmherziges Lächeln zerstreute ihre Bedenken, ihn beleidigt zu haben.
»Das wäre überaus nett«, entgegnete sie. »Wenn ich ehrlich bin, würde ich von den Papageien auch gern mehr sehen als die Unterseite. Ich verspreche Ihnen, dass wir ihn auch wieder freilassen nach unserer Begutachtung.«
Vikrama nickte ihr lächelnd zu und wollte sich schon wieder umwenden, als Grace etwas anderes einfiel: »Können Sie mir vielleicht erklären, was die Erntezeiten des Tees sind? Mr Stockton sagte etwas von einem First flush .«
Dasselbe Lächeln, das sie schon bei den Ausführungen Vikramas gegenüber ihrem Vater beobachtet hatte, erhellte nun seine Züge. Konnte ein Mann derart verschieden lächeln? Grace war verwirrt und überhörte darüber beinahe, was er sagte.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte er. »Wir sollten das nicht hier auf der Treppe besprechen.«
»Aber sicher doch!«
Grace folgte ihm die Treppe hinunter und dann in den Garten, zu den Rhododendren, hinter denen sie und Victoria gelauscht hatten.
»Sie wollen sich also Wissen über den Tee aneignen?«, fragte er seltsamerweise.
Grace nickte überrumpelt. Eigentlich hatte sie mit einer Antwort gerechnet. »Ich werde doch von jetzt an hier leben, nicht wahr? Dann sollte ich auch etwas über Tee wissen. So Mutter nicht noch einen Bruder gebiert, werde ich eines Tages die Herrin von Vannattupp u cci sein.«
Noch ein Gedankenblitz jagte durch ihren Verstand. »Was bedeutet eigentlich Vannattupp u cci ?«, fragte sie, bevor Vikrama auf ihre Worte eingehen konnte. »Das ist Ihre Muttersprache, nicht wahr?«
Vikrama nickte. »Es bedeutet Schmetterling. Ihrem Onkel ist aufgefallen, dass wir sehr viele schöne Exemplare auf der Plantage haben. Da hat er diesem Anwesen den entsprechenden Namen gegeben.«
»Einen Schmetterling habe ich vor ein paar Tagen auch gesehen, einen wunderschönen blauen. Leider war er ebenso schnell wieder weg, wie er aufgetaucht ist.«
»Manche Menschen glauben, dass Schmetterlinge die Seelen von Verstorbenen sind. Die Hindus glauben, dass ein Mensch im nächsten Leben auch durchaus in ein Tier hineingeboren werden kann. Vielleicht war es Ihr Onkel, der nachsehen wollte, wer auf seiner Plantage eingezogen ist.«
Der Gedanke gefiel Grace, obwohl sie mit ihrem Onkel keinerlei Gefühle verband. Dafür glomm in Vikramas Augen ein Anflug echter Trauer. Offenbar hatte er seinen Herrn sehr geschätzt.
Doch seinen Empfindungen gab er sich nur für einen Moment hin.
»Nun, ich glaube, er freut sich sehr über das Interesse seiner Nichte an seinem Lebenswerk. Sie wollten etwas über die Ernteperioden wissen, nicht wahr?«
Als Grace nickte, erklärte Vikrama ihr, dass vier Erntezeiten unterschieden wurden. Beim First flush wurden die jungen Blätter nach dem Winter geerntet, der Second flush war die Sommerernte, in der sie sich gerade befanden. Der Rain flush fand in der Monsunzeit statt, und schließlich endete das Jahr mit dem Autumn flush, der letzten Pflückung nach der Winterruhe.
»Wenn Sie wollen, erläutere ich Ihnen bei jeder Ernte die Unterschiede. Sie müssen wissen, dass jeder flush einen anderen Tee ergibt. Der First flush ist leicht und bitter, der Second flush ein wenig milder, aber dunkler. Man muss nur aufmerksam sein beim Trinken des Tees.«
Grace wollte dazu etwas sagen, doch die Worte versiegten in ihrer Kehle. Ihr Vater war mit seinem Gast vor die Tür getreten und schritt nun über den Hof. Als würde er nach etwas suchen, sah sich Stockton um. Schließlich wandte er sich ihr zu. Grace erstarrte und blickte beschämt nach unten.
»Was ist?«, fragte sie Vikrama.
»Ich glaube, mein Vater wird Ihnen nun Gehör schenken«, sagte sie enttäuscht. »Er verabschiedet seinen Gast gerade.«
Vikrama hob verwundert die Augenbrauen. Grace wollte allerdings nicht länger bei ihm verweilen.
»Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Mr Vikrama.«
Damit raffte sie ihre Röcke und eilte den Sandweg entlang zum Haus.
Ein Lächeln spielte auf Dean Stocktons Lippen, während er die
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