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Die Schmetterlingsinsel

Die Schmetterlingsinsel

Titel: Die Schmetterlingsinsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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stiegen in ihr auf, Tränen des Zorns und der Enttäuschung, doch sie unterdrückte sie, als sie sich langsam umwandte und dann den Raum verließ. Sie beherrschte sich selbst dann noch, als sie die Halle durchquerte. Ihre Mutter unterhielt sich an der Treppe mit Miss Giles über das Bild mit den indischen Göttern, vor dem noch immer beständig Blumen von unsichtbaren Händen abgelegt wurden. Selbst nach einem Monat hier sah niemand die Gläubigen, sie schienen den günstigsten Moment abzupassen.
    Grace gelang es, lautlos an ihnen vorbeizuhuschen und in den Gang einzutauchen. Hier, im Schutze des Zwielichts, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte lautlos über die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit und über das fehlende Interesse ihres Vaters am Wohlergehen seiner Angestellten. Sie weinte darüber, dass Vikrama Zeuge ihrer Zurechtweisung geworden war. Das wog von allem am schwersten.
    Am Ende des Ganges machte sie halt. Überdeutlich war zu hören, dass Victoria leise vor sich hin sang. Wahrscheinlich saß sie wieder an ihrer Staffelei und malte.
    Zweifelsohne würde sie Grace nach dem Grund fragen, wenn sie verheult durch die Tür kam. Obwohl sie wusste, dass Victoria auf ihrer Seite sein würde, wollte Grace ihr nichts ­sagen, ihr nicht zeigen, wie sehr ihr Vater sie verletzt hatte.
    Nach kurzem Nachdenken fiel Grace wieder das Herrenzimmer ein. Soweit sie wusste, hatte es ihr Vater noch nicht in Besitz genommen. Sie machte also kehrt und lief mit zu­geschnürter Kehle zu der Tür, die ihre Schwester und sie vor einigen Wochen geöffnet hatten.
    Aus der Halle tönten immer noch die Stimmen ihrer Mutter und von Miss Giles. Als fürchtete sie, dass sie sie hören könnten, drehte Grace den Türknauf ganz vorsichtig herum.
    Doch kaum hatte sie die Türschwelle überschritten, schien eine seltsame Magie von ihr Besitz zu ergreifen. So als würde Onkel Richard persönlich auf sie warten, um sie zu trösten. Die Tränen versiegten, ihr Verstand klarte sich. Die erfahrene Ungerechtigkeit wurde zur Nebensache und wich einem anderen Gedanken.
    Wer war Richard Tremayne?
    Auf einmal tat es Grace leid, so wenig über ihn zu wissen. Hätte er sie vielleicht auch bestraft, weil sie einer Frau auf seinem Gut zu Hilfe gekommen war? Wie ist er mit seinen Leuten umgegangen? Die wenigen Sätze, die Vikrama über ihn hatte fallen lassen, waren voller Hochachtung gewesen.
    Die Hoffnung, dass Richard irgendwelche Aufzeichnungen geführt haben könnte, verwarf Grace gleich wieder. Es war nicht die Art der Tremayne-Männer, Tagebücher zu führen. Wenn Richard seinem Bruder auch nur ein wenig ähnlich gewesen war, musste man sich ihn als einen zupackenden Mann vorstellen, der im Hier und Jetzt lebte und nicht irgendwelchen Erinnerungen und Gedanken nachhing.
    Dass sie, als Nachkommin der Tremaynes, das tat, musste an dem mütterlichen Erbe liegen. Auch ihre Mutter machte sich zu viele Gedanken, Gedanken, die der Arzt als Ursache ihrer Migräne bezeichnete und die sie dennoch nicht aufgab.
    Als sie die Tür hinter sich schloss, war von ihrem wutentbrannten Weinen nur noch ein leichtes Schluchzen übrig, wie bei einem Kind, das im nächsten Augenblick schon vergessen hatte, warum es überhaupt weinte. Bedächtig schritt sie durch den Raum, strich über die Laken, fühlte die Konturen der Möbel darunter. Sie klappte den Deckel des Pianos auf und drückte eine der weißen Tasten. Der Ton, der ihrer Geste folgte, klang reichlich verstimmt, offenbar war das Instrument schon vor dem Tod ihres Onkels nicht mehr gespielt worden. Doch warum hatte er es sich dann angeschafft? Weil er spielen lernen wollte?
    Auch das hielt sie für unwahrscheinlich. Eher hatte er damit bei seinen Freunden und Clubkameraden Eindruck schinden wollen.
    Von einem plötzlichen Impuls getrieben, ging sie zu der kleinen Empire-Kommode, die unterhalb eines Landschaftsbildes stand, das einen See und ein Herrenhaus zeigte. Graces anfängliche Annahme, dass es sich um Tremayne House handelte, wurde enttäuscht. Dieses Bild hatte keinen nostalgischen Wert, ihr Onkel musste es sich zugelegt haben, um den Raum damit zu schmücken.
    Nachdem sie das Laken von der Kommode gezogen hatte, öffnete sie die erste Schublade. Dabei pochte ihr Herz erwartungsvoll. Würde sie hier drin etwas finden, womit sie sich ein Bild von Onkel Richard machen konnte?
    Dem trockenen Schaben des Holzes folgte der Anblick von fusselbedecktem roten Samt. Die abgestoßenen Stellen auf dem Stoff

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