Die Schmetterlingsinsel
verschwammen unter Tränenschleiern, während sie sich dem Selbstmitleid hingab. Nachdem Victoria das Zimmer verlassen hatte, um ins Esszimmer zu gehen, hatte es sie wieder überfallen.
Warum hatte er ihr nicht recht gegeben? Warum hatte er sie vor Vikrama mit einer Bestrafung belegen müssen?
Das und die Tatsache, dass sich Petersen jetzt wohl köstlich über sie amüsierte, bohrten sich ihr wie ein glühendes Messer in die Brust.
Ihr Vater hatte sie verraten. Nie hätte sie gedacht, dass dies je passieren würde!
»Das war sehr dumm von Ihnen!«
Grace zuckte zusammen. Als sie aus dem Fenster blickte, stand dort Vikrama in seiner schwarzen Kleidung. Sein Gesicht war blass, seine Augen funkelten. Was hatte er hier am Haus zu suchen? Wenn ihn jemand sah …
Aber Grace hatte nicht die Kraft, ihn wegzuschicken.
»Es war das Einzige, was ich tun konnte«, entgegnete sie, während sie sich mit einer fahrigen Handbewegung die Tränen vom Gesicht wischte. »Ich wollte nicht zusehen, wie diese Frau ausgepeitscht wird. Sie hatte doch nichts weiter getan, als ein paar saure Äpfel zu nehmen.«
»Äpfel, die Ihrem Vater gehören«, wandte Vikrama ein.
Schlug er sich jetzt auch noch auf Vaters Seite? Auf einmal wurde die Sehnsucht, nach London zurückzureisen, riesengroß in ihr. Wie hatte sie sich von der schönen Landschaft nur täuschen lassen. Offenbar kam in den Menschen, wenn sie nur weit genug von ihrer Heimat entfernt waren, das Tier zum Vorschein.
»Die Äpfel gehören genauso gut mir! Genauso gut hätte ich sie abpflücken und sie ihr schenken können«, wandte sie trotzig ein.
»Das wäre etwas anderes gewesen. Diebstahl ist es trotzdem, und ich werde die Frauen anweisen, das künftig zu unterlassen. Wir haben jetzt einen neuen Herrn, der die Bräuche seines Vorgängers nicht kennt.«
Die Verachtung in seinen Worten erschreckte Grace.
»Heißt das, dass mein Onkel den Leuten erlaubt hat, Äpfel zu pflücken?«
Ein etwas wehmütiges Lächeln huschte über Vikramas Gesicht. »Ja, das hat er.«
»Und warum haben Sie das meinem Vater nicht gesagt? Er kann doch nicht wissen …« Grace stockte, als sie den traurigen Ausdruck in seinen Augen sah.
»Die Dinge haben sich ein wenig geändert, seit er diese neuen Leute angestellt hat«, sagte er leise. »Er hat mich zu seinem Schoßhund gemacht, zu einem Mann, der mit den Leuten da draußen kaum noch etwas zu tun hat. Ich muss ihn bei Terminen begleiten und seinem Vormann Anweisungen erteilen. Aber ich weiß, dass nach und nach die anderen das Sagen bekommen. Eines Tages werde ich überflüssig sein, und er wird mir ans Herz legen, zu gehen. Es passt einfach nicht, dass ein Tamilenmischling eine wichtige Position auf der Plantage innehat.«
Verdammter Stockton, dachte Grace zornig, nur er setzt Vater solche Flöhe ins Ohr.
»Ich glaube nicht, dass mein Vater so sein wird. Er schätzt Ihre Fähigkeiten und hält Sie nur deshalb bei sich, weil er auf dem Gebiet des Teeanbaus noch sehr unsicher ist.«
»Vielleicht«, gab Vikrama zurück, während er auf seine Finger schaute, die vergeblich versuchten, seine Aufgewühltheit zu verbergen, »irre ich mich tatsächlich. Nur beunruhigt es mich ziemlich, dass ich kaum noch mit den Pflückern und Arbeitern zu tun habe. Mir vertrauen sie, und unter meinem Kommando haben sie gern für ihren Herrn gearbeitet. Jetzt patrouillieren Petersens Leute über die Plantage, und ohne dass es dazu einen Grund gibt, tragen sie Waffen, und Petersen peitscht eine Frau wegen des angeblichen Diebstahls von Äpfeln aus.« Ein Zittern ging durch seinen Körper. Offenbar hätte er Petersen und seinen Männern nur zu gern die Leviten gelesen. Dann sah er Grace an. Sein Blick jagte Hitze durch ihre Adern.
»Ich danke Ihnen, dass Sie für meine Leute eingestanden sind. Dass Sie Naala beschützt haben.«
»Naala heißt sie?«
Vikrama nickte.
»Ich werde es mir merken.«
»Die Narben, die die Peitsche hinterlässt, werden sie ihr ganzes Leben lang begleiten. Sie wird nie vergessen, wer ihr das angetan hat und wofür ihr das angetan wurde. Doch sie wird auch nicht vergessen, dass es die Tochter des Masters war, die sie vor Schlimmerem bewahrt hat. Niemand in meinem Volk wird das vergessen.«
Auf einmal waren sich ihre Gesichter so nahe, dass er sie jederzeit hätte küssen können. Doch dann blickte er zu Boden und zog sich zurück.
»Mr Vikrama!«, rief sie, bevor er sich umwenden konnte.
»Ja, Miss Grace?«
»Wäre es vielleicht
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