Die Schmetterlingsinsel
gewann …
Mochte ihr Vater Vikramas Veränderung auch übersehen, Grace bemerkte sie sehr wohl. Wenn sie aufeinandertrafen, plauderte er nicht mehr unbeschwert mit ihr. Vikrama hielt sich zurück, wirkte manchmal regelrecht steif, so dass Grace sich nach einigen Augenblicken völlig verunsichert zurückzog und sich für ihre Gedanken schalt, in denen er immer öfter die Hauptrolle spielte. Doch wenn ihre Enttäuschung verraucht war, fragte sie sich, was dazu geführt haben konnte. Gab es Probleme auf der Plantage? Probleme mit ihrem Vater? Ihr war die Ankunft der Männer, die Stockton empfohlen hatte, nicht entgangen. Und dass Vikrama jetzt immer öfter im Büro festgehalten wurde, anstatt wie sonst umherzugehen. Hatte auch das mit Stockton zu tun? Auch wenn sie dafür keinen Beweis hatte, steigerte es ihren Zorn auf ihren Nachbar nur noch.
An einem schönen warmen Vormittag, als Victoria gerade im Unterrichtsraum über einem Diktat von Mr Norris schwitzte, beschloss Grace, dass es Zeit war, ihren Freundinnen in London zu schreiben. Das hatte sie bereits kurz nach der Ankunft in Colombo vorgehabt, doch dazu war es nicht gekommen, zu viel hatte es zu sehen gegeben, zu viel war passiert.
Ein schriller Aufschrei ließ Grace mit der Feder abrutschen. Ein hässlicher Strich zog sich wie eine Schnittwunde über das Geschriebene.
Doch das war nebensächlich. In der Annahme, dass irgendwas geschehen sein musste, eilte sie zum Fenster, und als sie nichts entdeckte, verließ sie ihr Zimmer.
Überraschenderweise schien niemand außer ihr auf den Tumult aufmerksam geworden zu sein. Als sie in der Halle durch die hohen Fenster spähte, entdeckte sie eine Menschenmenge, die sich bei den Teeschuppen zusammengefunden hatte. Die Schreie hallten noch immer über den Hof. Was war da los?
Zunächst wollte sie ihrem Vater Bescheid geben, doch der hatte die Plantage in aller Frühe verlassen. Ihre Mutter lag wieder einmal mit Migräne im Bett.
Da niemand sonst etwas unternehmen würde, raffte Grace ihre Röcke und lief nach draußen.
Das scharfe, zischende Geräusch, das zwischen den Schreien ertönte, ließ ihr Blut zu Eis werden. Sie hatte es schon einmal gehört, in Plymouth, wo sie das Schiff nach Ceylon bestiegen hatten.
Die Frauen wichen verwundert zurück, als Grace sich ihren Weg durch sie hindurch bahnte.
Petersen schlug mit einer Reitpeitsche auf eine Frau ein, die an eine Palme gebunden war.
Grace erstarrte, als sie das Blut auf ihren Kleidern sah.
»Hören Sie auf!«, rief sie, doch der Mann ließ erneut die Peitsche auf den Rücken der Frau niedersausen.
Grace zuckte zusammen, rannte dann weiter. Erschrocken wichen einige Männer zurück, einer rief Petersen etwas zu, das sie nicht verstand.
Auf einmal wurde ihr klar, dass nur eines den Vormann stoppen konnte. Als sie kurzerhand vor die Frau trat, hielt er inne.
Petersen stieß ein wütendes Brummen aus, doch dann schien ihm wieder einzufallen, wer sie war.
»Gehen Sie mir aus dem Weg, Miss Grace!«
Unverschämter Kerl, dachte Grace zornig. Was fällt ihm ein, mir Befehle zu erteilen?
»Sie können noch einmal ausholen, aber dann trifft der Schlag mich!«, fuhr sie Petersen an, der mit erhobener Hand noch immer innehielt. »Und ich sage Ihnen, dass Sie gegenüber meinem Vater keine gute Erklärung dafür finden werden, warum seine Tochter einen blutigen Striemen über dem Gesicht hat!«
Auf einmal schien die Zeit ringsherum stillzustehen. Das plötzlich aufgeflammte Murmeln der Teepflückerinnen verstummte.
Petersen kaute auf seiner Unterlippe herum, als würde er abwägen, ob er doch zuschlagen sollte. Dann senkte sich endlich sein Arm.
»Ich habe das Recht, diese Frau zu bestrafen!«, knurrte er. »Sie hat gestohlen.«
»Was hat sie gestohlen, Mr Petersen? Tee?«
»Sie hat sich an dem Apfelbaum vergriffen.«
Grace schnappte nach Luft und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Sie peitschen sie aus, weil sie ein paar Äpfel genommen hat? Von diesem Baum da?« Sie deutete auf den Baum, dessen Gestalt allein schon darauf hinwies, dass er nicht an diesen Ort gehörte. Was hatte ihren Onkel Richard bewogen, ihn zu pflanzen und der Degeneration preiszugeben?
»Haben Sie schon mal von den Äpfeln gekostet?«
»Das würde ich nie wagen, Ma’am!«, entgegnete Petersen und drückte stolz die Brust durch.
»Dann sollten Sie das tun!«, fauchte Grace ihn an. »Diese Äpfel da sind für die Küche vollkommen wertlos, nur aus diesem Grund sind sie noch da!
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