Die Schmetterlingsinsel
deuteten darauf hin, dass hier etwas gelagert worden sein musste, etwas, das schon vor langer Zeit entfernt worden war. Grace ließ die Finger über den Stoff gleiten, und als sie darunter nichts fand, schob sie die Schublade wieder zu und widmete sich der darunterliegenden. In dieser lagen ein paar Zettel, vergilbte Rechnungen mit tamilischen Zeichen, eine leere Tabakdose, die ein Scharnier verloren hatte, und ein Stück einer Messingkette. Plunder, der liegen geblieben war, nachdem man der Schublade das Wichtige entnommen hatte.
In der letzten Schublade, die sich besonders schwer öffnen ließ, schien es zunächst auch nichts zu geben, doch beim Hervorziehen mischte sich ein dumpfes Rumpeln in das Schaben. Davon angespornt zog Grace die Schublade noch weiter hervor – und wurde schließlich mit einem Glitzern belohnt.
Ob der Gegenstand mit Absicht so weit hinten in der Schublade lag oder durch das Aufziehen dorthin gepurzelt war, wusste Grace nicht, doch es war auch nicht von Belang. Andächtig zog sie ihn hervor. Das Medaillon war sehr alt, das Silber angelaufen und fleckig, die Kette beinahe schwarz. Mit zitternden Händen versuchte Grace es aufzuklappen, doch das gelang ihr zunächst nicht. Wehrte sich der Inhalt dagegen, ihren Blicken preisgegeben zu werden?
Als Stimmen vor der Tür laut wurden, erstarrte sie. Wollten Miss Giles und ihre Mutter zu ihr? Sie widerstand dem Impuls, nach draußen zu laufen und so zu tun, als würde sie gerade von der Unterredung mit ihrem Vater kommen. Stattdessen presste sie sich an die Wand neben dem Bild und hielt das Medaillon fest umklammert in einer Hand, als sei es ein magisches Artefakt, das sie unsichtbar machen könnte. Die Stimmen zogen vorbei, verschwanden. Irgendwo ging eine Tür. Unser Zimmer, dachte Grace erschrocken. Victoria wird Mutter gleich sagen, dass ich nicht da bin. Dass Vater mich gerufen hatte.
Würden sie hier nachsehen? Doch warum hatte sie Angst? War dieser Raum nicht ebenfalls Teil des Hauses?
Während sie nur leise atmete und spürte, wie sich das Medaillon allmählich in ihrer Hand erwärmte, ging die Tür erneut. Schritte ertönten, diesmal keine Stimmen. Die beiden Personen – ihre Mutter und Miss Giles – passierten die Tür zum Herrenzimmer, erreichten schließlich wieder die Halle.
Grace atmete aus, blickte dann auf das Medaillon in ihrer Hand. Ohne die Hilfe eines Brieföffners oder einer Nadel würde sie es nicht aufbekommen. Sie hängte sich die nach rostigem Metall riechende Kette um und verbarg das Medaillon unter ihrem Kleid. Dann schob sie die Schublade zu, deckte das Tuch wieder darüber, und nachdem sie noch einen kurzen Blick auf das Bild geworfen hatte, verließ sie den Raum.
Wie sie es vermutet hatte, saß Victoria an ihrer Staffelei. Sie malte gerade ein Arrangement aus Frangipani-Blüten, das in einer silberfarbenen Schale vor ihr stand.
»Ah, du bist das! Ich dachte schon, Miss Giles kommt wieder. Wie war die Unterredung mit Vater?«
»Nicht besonders gut«, entgegnete Grace.
»Ich habe schon gehört, was du getan hast, auf der ganzen Plantage spricht man von nichts anderem. Einer der Arbeiter hat es Mr Norris gesteckt, als er glaubte, ich sei in meine Arbeit versunken. Das war wahnsinnig mutig von dir.«
»Findest du?« Seufzend ließ sich Grace auf dem Bett nieder. »Es hat mir jedenfalls für heute Hausarrest eingebracht. Und das Schlimmste daran war, dass er mich vor Mr Vikrama zurechtgewiesen hat, als sei ich ein kleines Kind!«
Victoria zog die Augenbrauen hoch. »Hausarrest? Aber du bist doch schon achtzehn! Wie kann er dir Hausarrest geben?«
Grace zuckte trotzig mit den Schultern. »Offenbar geht das, wenn du dich nicht wie eine Erwachsene aufführst. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, bis vor ein paar Wochen konnte ich doch noch tun, was die anderen verlangt haben.«
»Du bist hier nicht mehr in England. Bei uns gibt es solche Barbarei wie Auspeitschen nicht in kultivierten Kreisen. Du kannst sicher sein, dass Vater etwas gegen den Vormann unternehmen wird. Er ist der Herr über Vannattupp u cci und nicht du!«
»Aber wer hätte der Frau denn sonst helfen sollen? Es war niemand sonst da, der ihn aufgehalten hätte.« Vikrama kam ihr in den Sinn, doch den ließ ihr Vater ja kaum von seiner Seite.
Anstatt das Abendessen anzurühren, das ihr eines der Dienstmädchen gebracht hatte, setzte sich Grace ans offene Fenster. Das konnte ihr Vater ihr immerhin nicht verbieten. Die grünen Büsche
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