Die Schmetterlingsinsel
wirklich etwas von Grace zurückgeblieben? Und wo sollte sie beginnen zu suchen?
Als das Morgenlicht an Kraft gewann und der Nebel allmählich von der Sonne aufgesogen wurde, entdeckte sie am Fensterrahmen eine kleine Einkerbung. Wenn man nicht genau hinsah, war sie leicht zu übersehen, doch nachdem Diana sie einmal entdeckt hatte, trat sie überdeutlich aus dem Holz hervor.
Ein Schmetterling, dachte Diana, während ihr Herz zu pochen begann, als hätte sie soeben Grace Tremaynes Tagebuch gefunden. Sie kletterte vom Fenstersims herunter und beugte sich über den Rahmen. Dabei entdeckte sie, dass es sich um eine recht komplexe und kunstvolle Schnitzarbeit handelte. Stammte sie von Grace? Oder von Victoria?
Emmelys Großmutter war dafür bekannt gewesen, wunderschöne Radierungen und Zeichnungen anzufertigen. Leider hatte die Zeit fast alle ihrer Werke gefressen, nur im Salon von Tremayne House hingen noch zwei Kohlezeichnungen, die in Dianas Erinnerung verblasst waren. Was gäbe sie darum, sie jetzt mit dem Schmetterling vergleichen zu können.
Den Gedanken, Mr Green um ein Foto oder einen Scan zu bitten, verwarf sie allerdings wieder. Stattdessen griff sie zu ihrer Kamera, die bislang nur ein paar Eindrücke während ihrer Besichtigungstour eingefangen hatte.
Beide Aufnahmen entfalteten keinesfalls die Wirkung, die der Schmetterling im Original auf den Betrachter hatte, doch für einen Vergleich würde es reichen.
Als sie von ihrer Kamera aufschaute, bemerkte sie, dass der Spalt zwischen Fensterbrett und Fensterrahmen vor dem Schmetterling ein wenig breiter war. Breit genug, um dort etwas zu verstecken!
Ihrer plötzlichen Eingebung folgend, öffnete sie das Fenster und beugte sich über den Spalt. Zunächst konnte sie nichts erkennen. Ich brauche Licht!, sagte sie sich, lief dann zum Bett und holte ihr Handy. Unter dem schwachen Schein der Display-Beleuchtung wurde sie tatsächlich fündig.
In dem Spalt steckte etwas! Ein Zettel? Oder nur ein Stück Tapete? Mit den Fingern konnte sie unmöglich drankommen, aber vielleicht mit einer Pinzette!
Rasch legte sie die Kamera zurück und nahm ihre Kulturtasche vom Nachtschrank. Für den Fall der Fälle hatte sie immer eine Pinzette dabei. Mit dieser versuchte sie wenig später den grauen Papierzipfel zu erreichen, was kein besonders leichtes Unterfangen war. Offenbar war die schwere Erreichbarkeit der Grund, warum noch niemand das Papierstück entfernt hatte. Als sie ihn zu fassen bekam und vorsichtig hervorzog, bemerkte sie, dass es sich nicht einfach um einen Zettel oder ein Stück Tapete handelte.
Es war ein Brief! Ein Brief, der unter der Vertäfelung in der Wand gesteckt hatte! »Das gibt es doch nicht!«, murmelte sie staunend, während ihr Herz wild zu pochen begann.
Zum Abschied, 1907 stand darauf. Verschlossen war er mit einem schmalen Siegel, das einen Schmetterling zeigte.
Wer hatte ihn verfasst? Vielleicht Victoria? Die Schrift ähnelte der auf dem Brief aus der Gruft, wirkte aber reifer und ein wenig fahrig, so als wäre die Verfasserin sehr aufgewühlt gewesen. Außerdem war Victoria nachweislich nach England zurückgekehrt.
Einen Moment wog Diana den groben braunen Umschlag auf der Hand. Offenbar enthielt er mehr als ein Blatt. Was mochte darauf stehen? Hatte hier jemand eine Nachricht für einen geliebten Menschen hinterlassen? Verbarg sich hier der Grund für Victorias schlechtes Gewissen?
Obwohl die Neugier sie beinahe umbrachte, beschloss Diana, den Brief erst später zu öffnen. Zwischen dem Tod von Richard Tremayne und dieser Nachricht lagen einundzwanzig Jahre. Viel konnte in dieser Zeit passiert sein. Obwohl die Möglichkeit bestand, dass hier ein Teil der Geschichte niedergeschrieben worden war, würde sie erst nach anderen Spuren suchen, beschloss sie.
Nachdem sie noch eine Weile nachdenklich in den beginnenden Morgen geschaut hatte, erhob sie sich und verstaute den Brief in ihrer Tasche, damit sie nicht in Versuchung geriet, ihn doch schon zu öffnen. Dann griff sie nach der Posterhülle mit dem Palmblatt, die Jonathan sorgsam unter ihre Kleider gebettet hatte. Mit einem leichten Rascheln glitt es in ihre Hand.
»Hast du hier einem der Mädchen ihr Schicksal vorausgesagt?«, murmelte Diana, während sie ihren Finger vorsichtig über die Schriftzeichen gleiten ließ. »Oder gehörst du gar nicht hierher?« Stille folgte ihren Worten, Stille, die keine Antworten beinhaltete.
Als Lärm auf dem Hof laut wurde und die ersten
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