Die Schmetterlingsinsel
vertrat, eingegangen waren. Kurz las sie sich die Nachrichten durch, verschob die Antwort aber auf später. Eva wusste seit dem Anruf von heute Morgen Bescheid. Dass Philipp sich nicht gemeldet hatte, enttäuschte sie irgendwie, wunderte sie allerdings überhaupt nicht. Wahrscheinlich hatte er ihr Verschwinden noch nicht einmal bemerkt.
Die erneut aufsteigende Wut auf ihn beiseitedrängend trat sie auf den Gang, der wie damals ein wenig verwunschen wirkte. Das Knarzen der Bodendielen unter ihren Füßen, das sie in neueren Häusern gestört hätte, klang jetzt wie die Stimmen alter Freunde, die sie aufforderten, sie zu besuchen.
Auf der oberen Etage befand sich neben ihrem Zimmer und einem ähnlich gestalteten Gästezimmer noch eine kleine Bibliothek, in die sich Diana in den Ferien bei Regenwetter meist mit einem alten Kerzenleuchter zurückgezogen hatte, obwohl es auch Strom gab. Emmelys Ermahnungen, dass sie sich bei dem schlechten Licht die Augen verderben würde, hatte sie ignoriert, denn nichts war stimmungsvoller, als bei Kerzenschein in einem alten, meist mit Illustrationen geschmückten Buch zu blättern und sich vorzustellen, in einer anderen Zeit zu leben.
Emmelys Schlafzimmer war nach unten verlegt worden, als die Krankheit sie in den Rollstuhl nötigte. Mr Green hatte Diana damals einen ausführlichen Brief geschrieben, in dem er ihr erklärt hatte, welche Maßnahmen unternommen wurden, um ihrer Tante das Leben so angenehm wie möglich zu machen.
Auf einmal drängte sich Emmelys Stimme ganz sanft in ihren Verstand.
Im alten Arbeitszimmer gibt es im mittleren Regal ein Geheimfach …
Als wäre ihr ein eisiger Hauch über den Nacken gestrichen, erschauderte Diana kurz, bevor ihr Blick wieder von dem Bild mit den rothaarigen Mädchen und ihrer majestätischen Mutter angezogen wurde.
Das Geheimnis. Ob es das wirklich gab?
Tante Emmely mochte vielleicht schwach und krank sein, aber ihr Verstand war Diana klar erschienen. Kein verwirrter Geist gab seinem Besucher den Auftrag, die Familiengeschichte zu durchforsten und ein Geheimnis zu suchen.
Unten angekommen verschob sie die Suche im alten Arbeitszimmer und strebte, angelockt von köstlichem Teeduft, der Küche zu. Als sie eintrat, war Mr Green gerade dabei, mit einem silbernen Messer ein Stück Teekuchen anzuschneiden, den er gerade aus dem Ofen geholt hatte.
Dieser Mann hat offenbar viele Talente, dachte Diana lächelnd. Schade, dass er zwanzig Jahre älter ist als ich, sonst hätte ich vielleicht mein Glück bei ihm versucht.
Versunken in seine Tätigkeit bekam der Butler zunächst nicht mit, dass sie in der Tür stand und ihn beobachtete. Erst als er sich aufrichtete, um den Kuchen auf der Platte zu drapieren, sah er sie.
»Ah, Mrs Wagenbach«, sagte er, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Ich habe den Tee gerade fertig.«
»Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als Sie mich Miss Diana genannt haben?«, sagte sie, als sie sich auf einem der groben Küchenstühle niederließ. Obwohl die Möbel verhältnismäßig neu waren, verströmten sie doch den Charme des frühen neunzehnten Jahrhunderts, als Tremayne House seine goldene Zeit erlebt hatte.
Der Butler lächelte. »Damals hatten Sie ständig wissen wollen, warum man mich nicht wie die Butler aus den Fernsehserien James nennt.«
»Sie haben aus Ihrem Vornamen immer ein großes Geheimnis gemacht.«
»Das mache ich auch heute noch. Sie müssen schon Ihre Tante fragen, wenn Sie ihn wissen wollen.« Mit geschmeidigen Handbewegungen, die jahrelange Übung verrieten, servierte er ihr Tee und ein Stück Kuchen.
»Warum eigentlich?«, fragte Diana, während sie den köstlichen Duft einsog, der ein wenig den Knoten, den sie seit dem Klinikbesuch mit sich herumtrug, löste.
»Jeder Mensch braucht ein Geheimnis, oder nicht? Meines ist mein Vorname, den nur meine Herrin und meine Geliebte kennen. Und natürlich die Leute von der Meldebehörde.«
Diana erschien es zu einfach, bei der Geliebten einzuhaken, aus der er meist auch ein Geheimnis machte. »Wissen Sie etwas von einem Geheimnis der Tremaynes, Mr Green?«, fragte sie also, nachdem sie einen Schluck Tee probiert und ihn sofort als Ceylon erkannt hatte.
Dass der Butler für den Bruchteil einer Sekunde in seiner Bewegung stockte, hielt sie für ein gutes Zeichen.
»Das Haus hat sicher viele Geheimnisse«, antwortete er ausweichend. »Ich bin nur der Mann, der die Außenhülle bewahrt. Was sich in den Mauern befindet, wer
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