Die Schmetterlingsinsel
weiß?«
»Meine Tante hat von einem Geheimnis gesprochen, als ich bei ihr war«, fuhr Diana fort, denn Emmely hatte ihr nicht gesagt, dass sie es niemandem erzählen sollte. »Sie hat mir den Auftrag gegeben, im alten Arbeitszimmer nachzusehen. Ehrlich gesagt habe ich mich schon als Kind vor diesem Ort gegruselt, es ist, als würden sämtliche Männer der Familie auf einen herabblicken und sich wundern, dass es eine Frau wagt, dort aufzutauchen.«
Diesmal bewahrte Mr Green sein Pokerface. »Frauen arbeiten in diesem Zimmer schon seit Mistress Victoria. Soweit ich weiß, haben ihre Nachkommen keinen angeheirateten Mann auch nur einen Schritt in diesen Raum setzen lassen. Auch Madam nicht.«
»Aber Tante Emmelys Mann ist im Krieg gefallen.« Dass sie danach nicht mehr geheiratet hatte, hatte Diana immer verwundert, aber wahrscheinlich gab es hier und da doch noch jene Liebe, die den Tod überdauerte und nicht einfach verwehte wie Laub im Herbstwind.
»Selbst wenn es danach noch einen Mann in ihrem Leben gegeben hätte, wäre der nicht in dieses Zimmer gelassen worden«, entgegnete Mr Green, ganz offensichtlich ein wenig stolz darauf, dass er dort ohne weiteres ein und aus gehen konnte. »Nach der Zeit im Ausland muss etwas mit der Familie geschehen sein, das die Männerherrschaft in ein Matriarchat verwandelte.«
»Vielleicht der Umstand, dass nur noch Mädchen geboren wurden?«, bemerkte Diana etwas spöttisch und biss in den Kuchen, der ein wahres Feuerwerk an Aromen in ihrem Mund explodieren ließ.
»Sicher.« Ein hintergründiges Lächeln huschte über Mr Greens Gesicht, während er sich die Handschuhe abstreifte. Irgendwas ist da, dachte Diana kauend. Irgendwas weiß er, doch wahrscheinlich hat Emmely ihm verboten, mit mir darüber zu reden.
»Setzen Sie sich doch zu mir, Mr Green«, sagte sie, als der Butler Anstalten machte, wieder an die Arbeit zu gehen. »Es ist nach fünf, Sie haben mich umhergefahren, das Haus auf Vordermann gebracht und alles für meine Bequemlichkeit getan. Ich glaube, Sie haben sich eine Pause verdient.«
Kurz flammte in Mr Greens Augen Ablehnung auf, doch dann gab er sich einen Ruck und ließ sich auf einen Küchenstuhl nieder.
Nach dem Tee, als das Dämmerlicht begann, den trüben Nachmittag zu vertreiben, nahm Diana all ihren Mut zusammen und ging über die Schachbrettfliesen des Korridors zu der großen Flügeltür, die den Besucher einen größeren Raum erwarten ließ als das eher in bescheidenen Ausmaßen gehaltene Arbeitszimmer der Familie Tremayne.
Obwohl die Lampen, die die Wände säumten, mittlerweile alle elektrisch waren, hatten sie doch das Aussehen früherer Gaslichtzeiten behalten, was Diana das Gefühl gab, tatsächlich in der Zeit zurückzureisen. Als Kind hatte sie sich ein wenig vor diesem Ort gefürchtet und ihn deshalb nur dann aufgesucht, wenn Emmely nirgendwo anders aufzufinden war. Meist hatte ihre Tante dann hinter dem Schreibtisch gesessen und etwas geschrieben.
Vor der Tür hielt sie inne, legte die Hände auf die beiden Türklinken und spürte die Verzierungen in dem kalten Metall. Dann drückte sie sie auf – und befand sich in Tremayne House Ende des 19. Jahrhunderts. Hinter dem für die Zeit typischen schweren Mahagonischreibtisch stand ein passender Stuhl, dessen lederne Polster mit groben Nieten auf dem Holz angebracht waren. Der grüne Schirm der geschwungenen Lampe war ebenso staubfrei wie die dicke, an den Rändern ein wenig zerkratzte Glasplatte, die die kostbaren Intarsienarbeiten vor Abnutzung und Flecken schützen sollte.
In der Annahme, dass das silberne Tintenfass längst ausgetrocknet war, klappte Diana den Deckel auf. Die schimmernde Oberfläche schwarzer Tinte überraschte sie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wie immer hatte Mr Green an alles gedacht. Seiner Fürsorge hatte sie wohl auch den Schreibblock zu verdanken, der sich aus der heutigen Zeit in die Vergangenheit geschlichen zu haben schien. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass sie sich etwas notieren wollte.
Als sie sich dem mittleren Buchregal zuwandte, verspürte Diana ein seltsames Kribbeln in der Magengrube. Das Geheimnis, dachte sie.
Will ich das alles wissen?
Ja, das wollte sie. Schon als kleines Kind hatte es sie gestört, dass es hinter dem Tod ihrer Großmutter eine Mauer zu geben schien, die die fernere Vergangenheit verbarg. Natürlich kannte sie die Namen der Vorfahren, Buchstaben auf vergilbtem Papier, angereichert mit kurzen
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