Die Schmetterlingsinsel
dem ein Umschlag lag. »Dieses Telegramm ist gerade für Sie abgegeben worden, Sir.«
Noch ein Gläubiger?, dachte Henry beunruhigt, während er den Umschlag nahm und dem Butler bedeutete zu warten, falls eine unverzügliche Antwort vonnöten war.
Das Zittern seiner Hände unterdrückend griff er nach seinem silbernen Brieföffner und schlitzte das Kuvert auf. Das Telegramm war nur ein kleiner Zettel, einmal in der Mitte gefaltet, um ihn vor Durchleuchtungsversuchen zu schützen. Die maschinengeschriebenen Lettern ließen Henry erstarren. Das Telegramm hatte einen weiten Weg hinter sich gebracht. Colombo, Ceylon stand in der rechten Ecke.
»Mein Bruder ist verunglückt«, sagte er halblaut, die Stimme rau vom Entsetzen. »Sie schreiben, dass er vom Adams Peak abgestürzt sei.« Obwohl er sich sonst nicht zu irgendwelchen öffentlichen Gefühlsregungen hinreißen ließ, schlug er die Hand vor den Mund, als er weiterlas. Er konnte es nicht fassen. Richard war tot. So fern der Heimat hatte ihn das Schicksal eingeholt.
»Soll ich eine Antwort aufgeben, Sir?«, fragte der Butler mit unbewegter Miene. Es war seine Pflicht, keine Regung zu zeigen, obwohl er Master Richard kannte und genauso erschrocken über die Nachricht war.
Henry stürmte ohne eine Antwort an ihm vorbei aus dem Arbeitszimmer und verschwand im Korridor. Auf einmal war es nicht mehr wichtig, welcher Familiensitz verkauft werden sollte …
Ein Klopfen vertrieb Henry Tremayne wieder aus Dianas Kopf, die Szene löste sich auf. »Ja, bitte?«, fragte sie, während sie das Telegramm neben dem Buch auf den Tisch legte.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Madam, ich wollte nur fragen, wann Sie das Abendessen wünschen.«
»Dann, wenn es fertig ist«, gab Diana ein wenig verwirrt zurück. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr solch eine Frage stellte. »Ich habe keine Ahnung, wann können Sie es fertig haben?«
»Ist Ihnen sieben Uhr recht?«
»Ja, natürlich.«
Ein leichtes Lächeln spielte auf Mr Greens Gesicht, als er das Arbeitszimmer wieder verließ.
Wahrscheinlich wundert er sich über meine Unsicherheit, dachte Diana, während sie erneut das Telegramm zur Hand nahm.
Am nächsten Vormittag bestand Mr Green darauf, Diana wieder zum Krankenhaus zu fahren. Ihren Vorschlag, den Bus zu nehmen, lehnte er entschieden ab. »Was soll ich denn den ganzen Vormittag über tun? Außerdem habe ich noch etwas zu besorgen.«
Diana spürte, dass das nicht stimmte. Mr Green wollte einfach nur wieder für ihren Komfort sorgen. Dabei hätte sie es nicht schlimm gefunden, den Bus zu nehmen, immerhin war sie Nahverkehrsmittel aus Berlin gewohnt.
Nachdem er sie vor dem Haupteingang abgesetzt hatte, brauste er davon, wohin auch immer. Wie schon am Vortag schlug Diana den Weg in die Intensivstation ein. Das leichte, vergilbte Papier in ihrer Hosentasche fühlte sich dabei an wie ein Stein und schien mit jedem Schritt, mit dem sie sich Emmelys Krankenzimmer näherte, schwerer zu werden. Die ganze Nacht über hatte Diana gerätselt, welche Folgen das Telegramm wohl nach sich gezogen hatte. Weder von Henry Tremaynes Bruder noch dessen tragischem Tod hatte sie gewusst. Hatte damit alles angefangen?
Schon als sie beim Nachfragen am Schwesterntresen aufgehalten wurde, überkam Diana ein seltsames Gefühl. Der Arzt, der ihr entgegentrat, war nicht Dr. Hunter, sondern ein schlanker blonder Enddreißiger mit blank poliertem Stethoskop über der OP-Bekleidung.
»Sie sind die Enkelin, richtig?«
Offenbar hatte ihm die Schwester, die auch heute zugegen war, bereits mitgeteilt, dass sie kommen würde.
»Ich bin Dr. Blake«, stellte er sich auf ihr Nicken vor und reichte ihr die Hand. »Leider geht es Ihrer Großmutter nicht besonders gut. Ihr Zustand hat sich so weit verschlechtert, dass wir gezwungen waren, sie künstlich zu beatmen. Ihr Kreislauf ist sehr instabil, aber wir tun alles, was in unseren Möglichkeiten steht.«
Diana nickte geschockt. Sie hatte nicht mit Verbesserung gerechnet, aber dass die Verschlechterung so schnell einsetzen würde, hatte sie nicht erwartet.
»Sie können natürlich trotzdem gern zu ihr, aber sie wird Sie wegen der Narkose, in die wir sie gelegt haben, damit sie sich besser erholen kann, nicht hören können. Das sollten Sie wissen.«
Betäubt bedankte sich Diana und gelangte dann irgendwie an Emmelys Tür und in die Schutzkleidung. Als sie vor den piependen Geräten stand, wurde ihr Verstand wieder klarer. Emmelys Gesicht war
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