Die Schmetterlingsinsel
Lebensdaten, die nichts über das Leben der Person selbst offenbarten.
Jetzt habe ich die einmalige Möglichkeit, etwas über unsere Familie zu erfahren. Und Emmely für die verlorenen Jahre zu entschädigen.
Vorsichtig zog Diana ein Buch nach dem anderen aus dem Regal und legte es auf dem Schreibtisch ab, wobei sie aufpasste, dass die Bände nicht zu dicht an das Tintenfass gerieten.
Nachdem sie in der ersten Regalzeile, die sie für die Mitte gehalten hatte, nicht fündig geworden war, entdeckte sie in der zweiten tatsächlich unter der Tapete eine kleine Tür, deren Existenz nur von einem Schlüsselloch und einer dunklen Einkerbung verraten wurde.
Dank der Bücher, die sie vor dem Licht geschützt hatten, waren die Farben des Paisleymusters hier noch so klar wie an dem Tag, als die Tapete an der Wand angebracht worden war. Kurz schoss Diana durch den Sinn, dass dieses Muster damals der letzte Schrei gewesen sein musste, denn niemand anderes als Königin Victoria hatte es aus Indien importiert. Dann strich sie mit dem Finger über die Kerben und versuchte, mit einer Sicherheitsnadel, die sie immer an irgendeinem Kleidungsstück bei sich trug, die kleine Tür aufzuziehen.
Wie Emmely angekündigt hatte, war das Fach verschlossen. Die feinen Kratzer am Rand deuteten darauf hin, dass irgendwer versucht hatte, es aufzubrechen, doch dieser Wandsafe war beste Wertarbeit und würde sein Geheimnis wahrscheinlich selbst dann nicht preisgeben, wenn das Haus eines Tages unter die Abrissbirne kam.
Warum hat niemand versucht, einen Nachschlüssel anzufertigen?, fragte sie sich. Die Kratzer mussten von Dieben stammen, die versucht hatten, an den Inhalt des Safes zu kommen, weil sie wohl dachten, die Familienjuwelen würden hier aufgehoben werden.
Als Diana sich seufzend umwandte, den Kopf bereits bei den Nummern möglicher Schlüsseldienste, fiel ihr ein Buch ins Auge, das aus der Reihe der anderen herausragte – wie ein Soldat, der vergessen hatte, sich einzureihen. Beinahe eine Unmöglichkeit in der zur Schau gestellten, peniblen Ordnung. Oder war es Absicht? Hatte Emmely ihr hier einen Hinweis hinterlassen? Doch wie hätte sie dies selbst tun können, mit ihren kranken Armen? War Mr Green doch eingeweiht?
Mit pochendem Herzen zog sie den grün eingebundenen Band mit der verblichenen Goldschrift hervor. Charles Dickens’ David Copperfield . Eine Ausgabe aus dem Jahr 1869. Beim Aufschlagen drang ihr nicht nur ein stockiger Geruch in die Nase, ihr fiel auch plötzlich etwas entgegen, das offenbar erst vor kurzem zwischen den Seiten verborgen worden war – ansonsten hätte es sich wohl nicht so leicht aus dem sehr gut erhaltenen Buch gelöst. Es war kein neues Papier, das auf dem Teppich landete.
Als Diana es aufhob, stellte sie fest, dass es sich um ein Telegramm handelte, aufgegeben am 15. Oktober 1886. Sie schlug es auf, und während sie las, veränderte sich das Zimmer ringsherum und trug sie als stille Beobachterin in die Zeit ihrer Vorfahren zurück …
Seufzend blickte Henry Tremayne aus dem Fenster, wo sein Spiegelbild von den Regentropfen verzerrt wurde. Seit Tagen goss es bereits wie aus Kannen, und ein Ende der Sintflut war nicht in Sicht. In den auf dem Weg stehenden Pfützen schlugen die Regentropfen Blasen, was nach einem alten Sprichwort noch mehr Regen ankündigte.
Das Wetter passte allerdings recht gut zu seiner Stimmung. Schon vor einigen Tagen hatte er einsehen müssen, dass er nur einen Besitz seiner Familie würde halten können. Die Entscheidung sollte ihm eigentlich nicht schwerfallen, denn das schottische Schloss hatte ihm ohnehin nie wirklich gefallen. Bestenfalls zwei- oder dreimal waren sie nach der Hochzeit da gewesen. Seine einzige Verbindung dorthin waren die Briefe des Verwalters, die monatlich eintrafen und vom Zustand des Besitzes berichteten.
Doch es lag seiner Frau am Herzen, und weil er sie liebte und nicht verärgern wollte, konnte er nicht leichtfertig verkünden, dass sie das Schloss ihrer Finanznot opfern würden. Sich von dem Stammsitz seiner Familie zu trennen, von Tremayne House, war allerdings vollkommen unmöglich, und so befand er sich in einer Zwickmühle, die ihn mit jedem Tag, die er die Entscheidung hinausschob, mehr quälte.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Überlegungen. »Herein!«, rief er, straffte sich und wandte sich vom Fenster ab.
Der Butler, ein hagerer Mann Mitte fünfzig, trat ein, in der behandschuhten Hand ein kleines Silbertablett, auf
Weitere Kostenlose Bücher