Die Schmetterlingsinsel
dunklen Schleier verpackt, seit sie hier waren. Dabei wusste sie nicht, ob sie es war, die verändert wurde, oder er.
»Ich weiß ja, dass ich eines Tages heiraten muss, ja hätte man mir noch vor einem halben Jahr gesagt, dass ich die Ehefrau eines reichen Grundbesitzers werden würde, wäre ich vor Freude außer mir gewesen. Doch nun …« Sie stockte. Hätte sie in England wirklich widerstandslos hingenommen, dass ihre Eltern ihr praktisch den Mann aussuchten?
In England hätte ich eine Ballsaison Zeit gehabt, mir einen der zur Wahl stehenden Männer auszusuchen. Vielleicht hätte ich mich sogar in einen von ihnen verliebt – ohne dass sein Vater mich betrachtet wie ein hungriger Wolf seine Beute.
Die Liebe! Genau das war der Grund. Als Mädchen hatte sie immer davon geträumt, und als sie erwachsen wurde, hatte man versucht ihr einzureden, dass die Pflicht gegenüber ihrer Familie wichtiger sei, doch der Keim der Sehnsucht ließ sich nicht so einfach unter Pflichten und Strenge ersticken.
»Ich liebe George Stockton nicht, ich werde ihn wahrscheinlich nie lieben. Heißt es nicht immer, dass man innerhalb weniger Augenblicke weiß, ob man einen anderen Menschen mag oder nicht?«
»Es heißt auch, dass viele Frauen sich an ihren Ehemann gewöhnen und dass daraus irgendwann Liebe wird.«
»Ja, das heißt es, aber du, die bei romantischen Novellen dahinschmilzt und auch Jane Austens Werke kennst, wärst doch gerade diejenige, die sich nicht gewöhnen wollen würde, oder? Würdest du denn nicht deinen Mr Darcy haben wollen?«
Noch während sie sprach, wusste Grace, dass sie ihren schon gefunden hatte.
»Ich bin ja eher für Colonel Brandon«, gab Victoria schwärmerisch zurück.
»Wie dem auch sei, dann eben Colonel Brandon«, entgegnete Grace. »Der Punkt ist, dass George Stockton weder das eine noch das andere ist. Er mag der Erbe einer prächtigen Plantage sein, doch sicher gibt es hier in der Gegend viele davon. Was in aller Welt bezwecken unsere Eltern damit, mich mit diesem Burschen zu verheiraten. Es gibt viel stattlichere Plantagenbesitzersöhne in der Gegend.«
»Aber wenn du George heiraten würdest, könntest du in der Nähe bleiben. Du weißt, dass Vater erwarten würde, dass du die Plantage übernimmst.«
»Eigentlich sollte ich Tremayne House übernehmen«, hielt Grace dagegen. »Wenn ich ehrlich bin, wäre ich jetzt lieber dort!«
Das stimmte nicht so ganz, denn es gab durchaus einiges, das sie an diesem Ort halten könnte. Doch um einer Heirat mit George Stockton entgehen zu können, wäre sie in diesem Augenblick auch bis ans andere Ende der Welt gereist.
»Was willst du mit dem alten Kasten?«, fragte Victoria verwundert. »Du musst schon zugeben, dass das Klima hier viel besser und das Haus weniger trostlos ist.«
»Das schon, aber bedenke nur, du wärst an meiner Stelle!«
Als ihr die Tränen kamen, setzte sich Victoria neben sie und streichelte sanft über ihre Schulter.
»Vielleicht überlegen sie es sich noch. Außerdem will ich nicht, dass du von hier weggehst. Es wäre doch möglich, dass der junge Stockton auch nicht will. Oder dass er vom Pferd fällt, wenn er seinen Vater zur Plantage begleitet. Niemand weiß, was das Schicksal noch so alles bereithält.«
Eisiges Schweigen folgte dem Besuch bei den Stocktons. Grace schmollte; bis auf die Mahlzeiten ließ sie sich bei niemandem blicken. Claudia schien sich keiner Schuld bewusst zu sein, ihr Vater hatte den Kopf so voller anderer Dinge, dass ihm die Verstimmung seiner Tochter nicht auffiel.
Während sie lustlos in ihrem Essen herumstocherte und das Gefühl hatte, bereits haufenweise von dem klebrigen Porridge gegessen zu haben, wälzte sie immer wieder den Widerwillen gegen eine Verlobung mit George Stockton in ihrem Verstand herum.
Sicher, eine Frau musste ihre Pflicht erfüllen und heiraten. Aber warum nur er? Gleichzeitig fragte sie sich, was aus der folgsamen Tochter geworden war, die nur von ihrem Debüt und einer Hochzeit geträumt hatte.
Und während sie sich nun zwang, etwas von dem servierten Ei zu probieren, fiel es ihr ein: Niemand könnte den Platz in ihrem Herzen einnehmen, denn dieser war schon besetzt. Besetzt von einem Mann, von dem sie nicht einmal wusste, ob er überhaupt noch frei war.
Vannattuppucci Tea Company, 2008
Am nächsten Morgen wartete erneut ein Frühstück auf Diana und Jonathan, doch anstelle von Mr Manderley fanden sie nur eine kleine Karte vor, auf der er sich entschuldigte, weil
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