Die Schmetterlingsinsel
er in Colombo zu tun hätte und erst am nächsten Tag wieder zurück sein würde.
»Er wird uns fehlen«, bemerkte Diana lächelnd, als sie auf dem Weg zum Archiv die Karte in die Hosentasche schob. »Was, wenn wir eine Frage haben?«
»Das ganze Gebäude ist voller netter Menschen, die nur darauf warten, dass wir sie von ihrer eigentlichen Arbeit abhalten.« Jonathan schmunzelte, dann schob er ihr eine CD -Hülle zu. »Ich habe Ihnen hier mal ein paar Dinge über das Kalarippayat herausgesucht. Unter anderem auch ein Video, anhand dessen Sie sich einen Eindruck über den Kampf verschaffen können. Vielleicht brauchen Sie es für Ihre Sammlung.«
»Woher haben Sie die CD?«, fragte Diana verwundert.
»Na ja, Sie wissen schon, die Damen aus der Verwaltung. Man lächelt sie charmant an, bringt bescheiden seinen Wunsch vor, und schon öffnen sich sämtliche Türen. Sehen Sie sich das Material an, es lohnt sich.«
Diana zog die Hülle zu sich und betrachtete die Beschriftung, die eindeutig von Jonathan stammte.
»Was macht eigentlich Ihr Projekt?«, fragte sie dann. »Ich werde das schlechte Gewissen nicht los, weil ich Sie von der Arbeit abhalte.«
»Ich glaube kaum, dass man das hier als Abhalten von der Arbeit betrachten kann. Ich habe Ihnen ja schon gestern gesagt, dass ich einiges, was wir hier finden, für mein Buch gebrauchen kann. Genau genommen muss ich Ihnen und Michael dankbar sein, denn Sie zeigen mir hier einen ganz anderen Blickwinkel. Hin und wieder neigen wir Historiker dazu, die Dinge viel zu nüchtern anzugehen. An diesem Ort«, er breitete die Arme aus, »kann man die Aspekte des Konflikts hautnah miterleben. Was will man mehr?«
Die folgenden Stunden schritten voran, doch das einzig Neue, das Diana zutage förderte, war ein altes Rezept über Chinin, das von einem Dr. Desmond ausgestellt worden war. Die anderen losen Zettel, von denen sie sich erhofft hatte, dass einige von ihnen persönliche Briefe waren, entpuppten sich als Lieferscheine und Geschäftskorrespondenz. Immerhin entdeckte sie auf einigen die Handschrift ihres Vorfahren, Henry Tremayne. Auch ohne Kenntnisse in Graphologie zu besitzen, konnte Diana sich den Plantagenbesitzer als einen willensstarken Mann vorstellen. Was war nur vorgefallen?
Wieder musste sie an Emmelys Trauerfeier denken. Das Ereignis, der Skandal, wie Victoria selbst in ihrem Brief geschrieben hatte, musste gravierend genug gewesen sein, dass er selbst heute noch ein schwaches Echo nach sich zog.
Niemand wusste mehr, was gerufen worden war, aber alle hörten noch immer, dass etwas gerufen wurde.
»O mein Gott!«, rief Jonathan plötzlich aus.
Diana wirbelte erschrocken herum. »Was ist los?«
»Ich glaube, ich habe hier etwas gefunden, das Sie ganz dringend brauchen.«
Er reichte ihr ein zerfleddertes Heftchen, das von Wasserflecken ganz wellig war. Es befand sich keine Aufschrift darauf, und auf den ersten Seiten standen nichts als tamilische Zeichen.
»Was ist das?«, fragte sie verwundert, während sie auf die leicht verwischte Schrift zeigte. »Sie wissen doch, ich kann kein Tamil.«
»Die Schriftzeichen sind bedeutungslos, bestenfalls Schreibübungen. Aber dahinter befindet sich, glaube ich, ein Schatz.«
Als Diana weiterblätterte, sah sie, was Jonathan meinte.
»Das gibt es nicht!«, presste sie atemlos hervor. Ihre Pulsfrequenz stieg an, als stünde sie kurz vor dem Startschuss zu einem Sprint.
Hinter den Schriftzeichen befanden sich Aufzeichnungen, die so winzig waren, dass sie mit einer Lupe gelesen werden mussten. Als hätte der Autor versucht, wirklich jeden freien Platz in dem Heft zu nutzen, drängten sich die Zeilen eng aneinander. Jemand, der flüchtig darüber blickte, würde dies für sinnloses Gekritzel halten, doch Diana, die die Zeilen dicht vor ihre Augen hielt, als sei sie plötzlich kurzsichtig geworden, erkannte die feinen Spitzen in den Linien.
»Der Schreiber muss eine überaus dünne Feder verwendet haben«, sagte sie, als sie das Heft wieder zurücklegte. »Ich werde Mr Manderley um eine Lupe bitten müssen, schätze ich.«
»Jemand, der etwas so klein schreibt, will darin etwas verbergen«, behauptete Jonathan, als sei er ein Meister des Verborgenen. »Vielleicht lauern dort Graces oder Victorias Geheimnisse!«
»Wenn dieses Heft wirklich einer der Schwestern gehörte, muss es ihr nicht wichtig genug erschienen sein, um es wieder mit nach England zu nehmen. Vielleicht machen wir uns zu große Hoffnungen, und es
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