Die Schmetterlingsinsel
angeschlossen, auf dem niedrigen, massiven Holztisch, der sonst als Standort für eine Obstschale diente. Den Schreibblock aus dem Arbeitszimmer hatte sie sich geholt, das Tintenfass aber dort gelassen, denn sie wollte nicht den Teppich beflecken – was zweifellos passieren konnte, wenn man mit Feder oder Federhalter schrieb.
Über das mutmaßliche Geheimnis stand noch nichts auf dem Block, dafür eine Liste der Dinge, die Diana an diesem Tag erledigen wollte. Seit Jahren hielt sie sich an dieses System, das es tatsächlich vollbracht hatte, ein wenig Ordnung in ihr Leben zu bringen. Die Liste, auf der zuoberst der Anruf beim Schlüsseldienst stand, war auch jetzt so etwas wie ein Rettungsanker für Diana, während sie sich auf das Sofa sinken ließ und das Telegramm hervorzog, das sie in einen neuen Umschlag getan hatte, um es zu schützen.
Bereits gestern hatte sie versucht, den Namen Richard Tremayne zu googeln, doch Fehlanzeige. Sein Geist hatte das Internet noch nicht erreicht. Ein Besuch bei einem hiesigen Archiv war daraufhin ebenfalls auf die Liste gewandert.
Nun griff Diana nach dem Telefon, das wohl neben dem Elektroherd das modernste Gerät im ganzen Haus war. Einen Fernseher hatte sie bei ihrem Rundgang durch teilweise kahle Räume nicht entdeckt.
Die Auskunft gab ihr drei Telefonnummern von Schlüsseldiensten. Von denen hatte eine Firma gerade Betriebsferien, bei der zweiten war die Leitung dauerbesetzt. Das sprach zwar für die Qualität der Firma, aber Diana wollte nicht so lange warten. Bei der dritten Nummer meldete sich ein freundlicher älterer Herr, der ihr erzählte, dass er schon bald in Pension gehen würde. Doch da es sich um Tremayne House handelte, würde er schon kommenden Nachmittag erscheinen und sich das fragliche Schloss ansehen.
Kaum hatte sie aufgelegt, bemerkte sie Mr Green neben der Tür. Wie lange er dort schon gestanden und geduldig auf das Ende des Gesprächs gewartet hatte, wusste sie nicht. Doch von irgendwoher waberte ein köstlicher Duft heran.
»Das Mittagessen ist gegen ein Uhr fertig, ist Ihnen das recht, Miss Diana?«, fragte er.
»Kommt ganz drauf an, was es gibt«, entgegnete sie scherzhaft, obwohl sich ihr gesamtes Innerstes wund anfühlte.
»Eine englische Spezialität. Lassen Sie sich überraschen!«, hallte seine Stimme durch den Gang, in dem er bereits verschwunden war.
Diana war nicht sicher, ob sie Überraschungen überhaupt noch mochte. Ihr Blick streifte das sauber verschnürte Päckchen, das keinen Hinweis auf den Inhalt oder den Ort, an dem es gekauft worden war, enthielt. Auf dem braunen Packpapier befand sich kein Firmenstempel wie heute üblich, das Band ringsherum war gewöhnliche Kordel, wie es sie überall zu kaufen gab. Nun gut, lassen wir uns überraschen, dachte sie, während sie die Schleife aufzog.
Schon beim Öffnen spürte sie etwas unglaublich Weiches an ihren Fingerkuppen. Erstaunt schnappte sie nach Luft, als sie sah, worum es sich handelte. Ein orangefarbenes Seidentuch, das mit einem wunderschönen in Rot und Gold gehaltenen Muster bedeckt war. Das Besondere daran war, dass es schon ziemlich alt sein musste. Die Ränder waren ganz leicht verschlissen, und die Stickerei ähnelte der auf alten Gewändern, die man in Museen bewundern konnte. Obwohl Diana keine Expertin in Modegeschichte war, meinte sie doch irgendwo gelesen zu haben, dass Tücher mit echter indischer Paisley-Stickerei sehr teuer waren. Aus diesem Grund hatte man in einem schottischen Ort namens Paisley begonnen, die Muster zu reproduzieren.
Tante Emmelys Care-Päckchen waren berühmt für ihre Großzügigkeit, doch etwas derart Schönes hatte es noch nie enthalten. Stammte es aus ihrem eigenen Kleiderfundus? Doch warum musste Mr Green es irgendwo abholen? War es ausgebessert worden?
Wenn ja, musste der Schneider schlechte Arbeit geleistet haben …
Auf einmal kam ihr das Muster hinter der Tapete wieder in den Sinn. War das auch einer von Emmelys Hinweisen?
Mr Green damit zu konfrontieren, ihn zu fragen, ob Emmely ihn zum Mitwisser gemacht hatte, versagte sie sich. Er würde wahrscheinlich nur wieder lächeln und rätselhaft antworten. Nein, ich werde selbst dahinterkommen, sagte sie sich, während sie gedankenvoll das Tuch durch ihre Finger gleiten ließ und das Kratzen des Musters spürte.
Die von Mr Green angekündigte englische Spezialität bestand aus saftigem Lammbraten, Kartoffeln und einer Soße mit leichter Minznote, die hervorragend schmeckte.
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