Die Schmetterlingsinsel
schief, über dem Grab war ein wenig Erde eingesunken. Nach so vielen Jahren hatte wohl das Holz des Sarges nachgegeben.
Diana blieb in dem laubübersäten Gang stehen und griff nach hinten, wo sie Jonathan spürte. Seine Hand fand die ihre und hielt sie fest, warm und kraftvoll.
Das zweite Foto von Mr Green hatte die Grabstelle gezeigt, war aber zu undeutlich gewesen, um Einzelheiten zu erkennen. Lediglich eines hatte man gesehen – dass in der Mitte des Grabsteins ein Medaillon eingelassen war.
Dieses glänzte trotz seines Alters geheimnisvoll durch den Efeu, als wollte es sie auffordern, es endlich zu finden.
Als Diana die Efeuranken entfernt hatte, stockte sie auf einmal, legte den Kopf schräg und las:
Hier ruhen in Frieden
Kapitän zur See
Friedrich Södermann
1. Juli 1860 – 4. Mai 1918
V. Grace Södermann
geborene Tremayne
25. Dezember 1868 – 19. Dezember 1931
»V?«, wunderte Diana sich.
»V«, wiederholte Jonathan fassungslos. »Das gibt es doch nicht.«
»Was denn?«
»In Sri Lanka ist es Brauch, den ersten Buchstaben des Vaternamens vor den eigenen Namen zu stellen. Sobald eine Frau heiratet, gibt sie den Buchstaben des Vaters ab und nimmt den ersten Buchstaben des Namens ihres Mannes an, um ihre Zugehörigkeit zu zeigen.«
Auf einmal schien ein regelrechter Sturm durch Dianas Adern zu toben. Ihr Herz raste und ihr Mund wurde trocken, als Jonathans Worte durch ihren Verstand tobten.
»Sie war mit Vikrama verheiratet?«
»Wenn man nach dem Grabstein geht, ja«, gab Jonathan zurück. »Zumindest muss sie sich ihm zugehörig gefühlt haben und um den Brauch gewusst haben.«
Diana sank zurück in die Hocke. Minutenlang starrte sie ins Leere.
Grace war mit Vikrama verheiratet gewesen – nach tamilischem Recht und Brauch.
Hatte ihr Mann davon gewusst? Und wenn ja, wie hatte er damit leben können, immer nur an zweiter Stelle zu stehen? Wie hatte er ertragen können, dass Grace eigentlich nur darauf wartete, dass Vikrama eines Tages zu ihr finden würde?
Und wie muss es Victoria ergangen sein, als sie herausfand, dass Vikrama verschwunden war? Hatte sie deshalb die Schatulle mit ihren Erinnerungsstücken wie dem Reiseführer, dem blauen Stein und dem Foto samt dem Hochzeitshoroskop in dem Geheimfach verschwinden lassen?
Als Diana die Hand nach dem Medaillon im Grabstein ausstreckte, dem die Zeit doch schon ziemlich zugesetzt hatte, bemerkte sie, dass es etwas locker war.
»Hast du ein Messer dabei?«, fragte sie Jonathan und wusste dabei nicht genau, was sie dort suchte. Mitnehmen wollte sie es eigentlich nicht – es sei denn Grace hatte gewollt, dass ihre Nachkommen es an sich nahmen.
»Hier«, sagte Jonathan, während er ihr ein kleines Taschenmesser reichte. Mit seiner Hilfe war es einfach, es aus dem Stein zu lösen. Warum nur hatte es nicht schon früher jemand getan? Hatte der Krieg einen Mantel des Vergessens über diesen Ort ausgebreitet?
Kaum hatte sie das Medaillon in der Hand, entdeckte sie in der Ausbuchtung, die es verschlossen hatte, ein zusammengerolltes Stück Papier. Zitternd griff sie danach und entrollte es. Schriftzeichen! Jene Schriftzeichen, die sie auch schon auf dem Palmblatt gesehen hatte, das sie mittlerweile Michael überlassen und ihm gegenüber den Irrtum aufgeklärt hatte.
Zudem gab es eine kleine Notiz, Stichpunkte, mit zarter Hand geschrieben. Diana erkannte die Handschrift von Grace wieder.
»Das muss die Kopie des Palmblatts sein«, sagte sie und sprang auf. »Von dem sie in ihrem Heftchen geschrieben hatte!«
»Vielleicht war es nur ihr eigenes Hochzeitshoroskop«, wandte Jonathan ein, doch Diana war nicht zu bremsen.
»Nein, ich bin sicher, dass das eine Abschrift des Palmblattes ist, denn sie hätte ja sonst das Originalblatt besessen.«
Diana versuchte vergeblich, ihre Gedanken zu ordnen, die wie ein Hurrikan durch ihren Verstand wirbelten. Ihr Blick fiel nun auf das angelaufene Medaillon.
»Vielleicht ist hier drin ein Bild von ihnen beiden.« Diana kam sich selbst vor wie jemand, der den Verstand verloren hatte, doch Jonathan nahm ihren Wahn mit einem Lächeln hin. Als er das Medaillon mit einem Taschenmesser öffnete, blickten sie auf das Gesicht einer wunderschönen, indischen Frau, die große Ähnlichkeit mit dem Bildnis von Vikrama hatte.
»Das muss seine Mutter sein.«
»Richards Geliebte«, gab Diana zurück. Sie fühlte sich ganz schwindelig. Mit dem Medaillon, das vielleicht Vikramas Mutter zeigte, und der
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