Die Schmetterlingsinsel
gewandert ist, bis er die Bauchschlagader erreichte.«
»Dann war ihr Tod nur aufgeschoben worden«, bemerkte Diana beklommen, während ihr klar wurde, wie kurz ihre Familie vor der Auslöschung gestanden hatte.
»Ja, so war es. Sie hätte auch während der Schwangerschaft sterben können. Doch Gott oder wer auch immer hatte gewollt, dass ihr Kind geboren wurde. In Anbetracht der späteren Ereignisse könnte man sogar sagen, dass das Schicksal wenigstens einmal etwas Gnade mit den Nachkommen der Tremaynes gezeigt hatte. Emmely blieb es zeitlebens verwehrt, noch ein Kind zu bekommen, nachdem das erste gestorben war.«
Die Stille, die seinen Worten folgte, wirkte wie ein Echo aus ferner Zeit. Die Bilder der Vergangenheit rückten näher, umstellten sie wie Soldaten, die Diana und auch dem Arzt keine andere Wahl ließen, als sich zu ergeben.
»Gibt es ihr Grab eigentlich noch? Ich meine, das von Ihrer Großmutter Beatrice?« Sayers’ Stimme durchbrach das Schweigen wie ein Hammer eine Glasscheibe und ließ Diana doppelt aufhorchen. »Ich war schon lange nicht mehr auf dem Friedhof, jetzt, da sich mein eigenes Ende nähert, meide ich diesen Ort wie die Pest, weil ich fürchte, dass er mich sonst nicht mehr gehen lässt.«
Während sich die Vergangenheit in die Schatten des Hauses zurückzog, zuckte Diana ein wenig verwirrt mit den Schultern und überhörte den Scherz des Arztes.
Das Grab ihrer Großmutter war nur noch ein undeutlicher Schemen in ihren Kindheitserinnerungen. Ein Schemen mit Flügeln, denn Emmely hatte einen marmornen Engel die Grabstelle bewachen lassen. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, nachzuschauen. Tante Emmely beschäftigte einen Gärtner dafür.«
»Vielleicht sollten Sie Ihrer Großmutter mal einen Besuch abstatten. Im Gegensatz zu mir brauchen Sie den Tod noch nicht zu fürchten. Es würde Beatrice sicher interessieren, was für eine Frau ihre Enkelin geworden ist. Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
Plötzlich überkam Diana ein schlechtes Gewissen. Stimmte es wirklich, dass die Toten sehen konnten? Wenn ja, waren sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter sicher entsetzt über das, was Philipp ihr angetan hatte – und über ihre Reaktion darauf natürlich. Sicher hatte keine Frau vor ihr Stücke des Wohnzimmers zertrümmert.
»Ich werde hingehen, sobald ich den Papierkram erledigt habe.«
Sayers sah sie an, als wollte er prüfen, ob sie ihr Wort auch einzuhalten gedachte. Dann nickte er und griff in die Innentasche seines Jacketts. »Hier ist meine Karte, falls sich etwas ergibt oder Emmely wieder bereit ist, Besuch zu empfangen. Sie können mich jederzeit anrufen, auch wenn Sie sich etwas von der Seele reden wollen oder Hilfe beim Haus brauchen.«
Nachdem sich Diana bedankt hatte, lehnte er sich zurück, blickte dann an die Decke und lächelte, als würde er dort etwas Vertrautes entdecken. »Ja, dieses Haus! Es ist beinahe so etwas wie mein Zuhause. Noch immer meine ich die heimelige Unordnung zu sehen, die hier geherrscht hat, als ich jung war. Die Arbeit im Lazarett war zuweilen furchtbar, die Enge unerträglich und der Hunger groß, aber diese Zeit würde ich nicht aus meiner Biografie streichen wollen. Trotz allen Leids war sie auch schön.«
Nachdem sie sich noch ein Weilchen über weniger schwere Themen unterhalten hatten, verabschiedete sich Dr. Sayers mit dem Versprechen, in der kommenden Woche wieder nach dem Rechten zu sehen. Diana erkannte die eigentliche Absicht dahinter – er wollte den Mittwochnachmittag nicht allein verbringen –, doch die Anwesenheit des Doktors war ihr nicht unangenehm gewesen, auch wenn sie viel verdrängtes Wissen wieder aufgewühlt hatte.
Bei ihrer Rückkehr ins Wohnzimmer ließ sich Diana auf das Sofa fallen. Auf einmal waren ihr die Beine unendlich schwer. Dr. Sayers’ Erzählung hatte so deutliche Bilder vor ihr geistiges Auge projiziert, dass es ihr vorkam, als sei ihre Großmutter erst gestern gestorben. Die schöne Beatrice, die sie nur von einem Foto kannte und zu der sie nie eine Beziehung hatte aufbauen können. Irgendwie überlagerte sich nun ihr Bild mit dem von Emmely, die ebenfalls an der Schwelle des Todes stand.
Vielleicht sollte ich das Grab wirklich aufsuchen und nach dem Rechten sehen, jetzt, wo Emmely es nicht mehr tun kann. Außerdem, wisperte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf, solltest du dir überlegen, an welchen Platz Emmely gebettet werden kann,
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