Die Schmetterlingsinsel
wenig muffig riechenden Decken des alten Bettes, kehrte Diana in ihrem Traum zum Friedhof zurück. Diesmal war er von Morgennebel verhangen, hinter dem sie geheimnisvolle Stimmen zu hören meinte. Als sie an sich hinabsah, bemerkte sie, dass sie nichts weiter als ihr Nachthemd trug. Ihre nackten Füße hinterließen leichte Fußabdrücke auf dem sandigen Weg, ihr offenes Haar, das länger war, als sie es sonst trug, wehte wie ein Schleier hinter ihr her.
Seit ihrem Besuch schien sich außer dem seltsamen Wispern, dessen Quelle sie wegen der dichten, rosafarbenen Nebelschwaden nicht ausmachen konnte, nichts verändert zu haben. Noch immer hielt der Engel den Kranz über das Grab. Da die Sonne vom Nebel verschluckt wurde, fiel kein Schatten auf Beatrices Lebensdaten, doch auch so war der Anblick sehr imposant.
Auf einmal streifte etwas zart Dianas Wange. Zurückweichend erkannte sie, dass ein Schmetterling aus dem Nebel aufgetaucht war, ein kleines, exotisch wirkendes Tier, das an ihr vorbeiflog und auf den Engel zuhielt, um sich schließlich auf dem Kranz niederzusetzen.
Unter seiner Berührung erwachten die Blätter zum Leben, wurden grün und glänzend, dann nahm der Arm, der den Kranz hielt, Farbe an. So ging es weiter, bis sich Diana zuletzt anstelle eines Engels einer Frau mit flammend rotem Haar gegenübersah, die in ein weißes Leichenhemd gekleidet war. Tränen rannen über ihr Gesicht, Tränen golden wie Tee, als sie plötzlich zu ihr aufsah und flehte: »Bring ihn mir zurück.«
Diese Worte voller unsäglicher Trauer ließen sie aufschrecken. Verwirrt blickte sich Diana um und realisierte wenig später, dass sie sich in ihrem Zimmer befand und sämtliche Decken von sich weggestrampelt hatte.
Keuchend ließ sie sich wieder auf die Matratze sinken. Es war nur ein Traum, sagte sie sich, doch der Gedanke, dass ihre Urahnin persönlich zu ihr gekommen war, um ihre Bitte zu übermitteln, ließ eine Gänsehaut über ihren Rücken laufen.
Unfähig, wieder einzuschlafen, starrte sie an die Decke und dachte aufgeregt darüber nach, welcher Art der Schmetterling wohl angehörte und wie er ins kalte England gekommen war. Mit einem Schiff? Über den Luftweg? Eingeschleppt von einem Flugzeug, dessen Personal ihn beim Reinigen übersehen hatte?
Erst gegen Morgen fielen ihre Augen wieder zu, und sie schlief traumlos, bis das Klingeln ihres Handys sie weckte. Als hätte sie geahnt, dass die Nacht unruhig werden würde, hatte Diana die Weckfunktion aktiviert, denn sie wollte schon am Vormittag zu Emmely, um anschließend Zeit für den Schlüsseldienst zu haben, der etwas von Nachmittag gesagt hatte.
Nach einer erfrischenden Dusche – das Warmwasser hatte irgendwie keine Lust gehabt, durch die Leitungen zu kommen – und Tee und Marmeladentoast in der Küche ging sie ins Wohnzimmer, wo sie einen Moment lang mit dem Gedanken spielte, Emmely von ihrer Entdeckung zu erzählen. Doch dann fiel ihr ein, dass Emmely wohl kaum aus ihrem künstlichen Koma geholt worden war.
Diana hatte gerade ihre Handtasche über die Schulter geworfen, als das Haustelefon klingelte. Ebenso wie Mr Green, der in der Tür wartete, erstarrte sie.
Sie wusste nicht, warum, doch auf einmal überkam sie ein mulmiges Gefühl. Wer sollte sie anrufen?
»Das wird sicher einer von Madams Bekannten sein«, beschwichtigte sie Mr Green, doch auch seine Stimme klang unsicher.
»Ich geh ran«, entschloss sich Diana und erreichte das Telefon gerade nach dem dritten Klingeln.
»Hallo, bei Woodhouse?«, meldete sie sich für den Fall, dass es doch einer von Emmelys Freunden war. Dr. Sayers vielleicht, der sich nach ihrem Befinden erkundigen wollte.
»St. James Hospital, Dr. Hunter.« Der Pakistani, registrierte Diana im Geiste. »Spreche ich mit der Enkelin von Mrs Woodhouse?«
»Ja, hier ist Diana Wagenbach«, antwortete sie, während sich unter ihrem Bauchnabel etwas zusammenkrampfte.
»Es tut mir sehr leid, Miss Wagenbach«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Ihre Großmutter ist vor einer Stunde verstorben. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, doch die Maßnahmen haben nicht gegriffen.«
Diana ließ den Hörer sinken. Ihr Arm hatte auf einmal keine Kraft mehr, ihn zu halten. »Hallo?«, hörte sie es aus dem Hörer fragen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Nach einem kurzen Moment, in dem sie ins Leere gestarrt hatte, legte sie den Hörer einfach wieder auf, dann kehrte sie wie betäubt in die Halle zurück.
Mr Greens Gesicht
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