Die Schmetterlingsinsel
Schade, dass ich so lange nicht dort war, aber ich habe Ihnen ja schon erklärt, wie sehr der Tod mit Männern meines Alters liebäugelt.«
Diana verharrte nachdenklich. Soll ich ihn wirklich fragen?
»Ich habe das Grab kurz nach Ihrem Besuch aufgesucht, und dabei sind mir einige seltsame Dinge aufgefallen.«
Ein wissendes Leuchten strich über das Gesicht des Arztes. »Sie haben sich sicher darüber gewundert, warum sie nicht in der Gruft liegt.«
»Unter anderem.«
»Nun, das gehört zu den Dingen, die Miss Deidre mit ins Grab genommen hat. Wir haben uns seinerzeit auch sehr darüber gewundert.«
»Lag es vielleicht daran, dass sie noch immer geglaubt hat, meine Grandma sei eine Schwindlerin?«
»Nein, das sicher nicht. Ich glaube, der Grund liegt viel weiter in der Vergangenheit, doch die kennt hier niemand. Fakt ist nur, dass es zu irgendeinem Zwischenfall zwischen Deidres Tante Grace und deren Vater gekommen sein musste, der dazu führte, dass er Grace aus der Erblinie der Tremaynes gestrichen hatte.«
Diana zog die Augenbrauen hoch. Das hatte sie noch nicht gewusst.
»Im Ernst?«
Dr. Sayers nickte. »Nach dem Tod des alten Henry Tremayne übernahm Miss Victoria, die Zweitgeborene, das Haus und das Anwesen und vererbte es später an ihre Tochter Deidre.«
»Vielleicht wollte Grace Tremayne House nicht. Meine Mutter erzählte mir mal, dass sie vermutlich um 1888 geheiratet hatte. Sie besaß ihr eigenes Haus an der Ostsee.«
»Wie gesagt, niemand weiß etwas Genaues. Deidre begegnete Beatrice allenfalls kühl und reserviert, als sei sie über den Vorfall von damals im Bilde. Beatrice selbst wusste nichts von alledem. Sie hielt sich von Deidre fern, hing aber beinahe die ganze Zeit über mit Emmely zusammen. Die beiden waren wie Schwestern, kein Wunder, sie waren ja in einem ähnlichen Alter. Ihr Tod hat Emmely das Herz gebrochen und war wahrscheinlich schuld daran, dass sie sich auch als junge Frau mehr und mehr zurückzog.«
Das Bedauern in Sayers’ Stimme war unüberhörbar und gab Dianas Vermutung, dass sich der Arzt in Emmely verliebt hatte, neue Nahrung.
Da sie allerdings glaubte, der Lösung des Rätsels um den Engel ganz nahe zu sein, fragte sie weiter.
»Und der Engel? Stellt der jemand Bestimmtes dar?«
»Soweit ich weiß, nicht. Emmely ließ ihn nach dem Tode ihrer Mutter errichten, vorher zierte nur die Grabplatte das Grab. Keine Ahnung, ob sie den Engel einer lebenden Person nachempfinden ließ. Möglich wäre allerdings, dass der Engel Beatrices Mann darstellt, der auf der Flucht getötet wurde. Das wäre doch wunderschön, finden Sie nicht? Im Tode schützt der Mann noch seine Frau.« Tränen glitzerten plötzlich in Sayers’ Augenwinkeln. Peinlich berührt wischte er sie weg, während seine Unterlippe bebte.
»Das ist wirklich ein sehr schöner Gedanke.«
Bevor der Arzt etwas dazu sagen konnte, erschien eine der Frauen mit einem Tablett neben ihnen.
»Etwas Kuchen, die Herrschaften?«
Diana war nicht wirklich danach, etwas zu essen, doch sie nahm sich ebenso wie Dr. Sayers einen Teller mit einem schwarz-weiß verzierten Cremeteilchen.
»Nun ja, es ist jedenfalls ein sehr schönes Denkmal für Ihre Großmutter, nicht wahr?«, griff Dr. Sayers ihr Gespräch wieder auf. »Sollten Sie herausfinden, ob es für den Engel wirklich ein reales Vorbild gibt, sagen Sie mir Bescheid, nach unserem Gespräch würde es mich brennend interessieren.«
»Das mache ich«, entgegnete Diana, und als sie in den Kuchen biss, meldete sich nun doch ein wenig Appetit.
Als alle Gäste gegangen waren, stand Diana lange vor den Fenstern des Wintergartens und sah dem Tag dabei zu, wie er das Grau allmählich in Schwarz verwandelte, ohne dass auch nur ein einziger Sonnenstrahl die graue Wolkendecke durchbrach.
Entfernt vernahm sie das Klappern der Teller in der Küche, die Mr Green aus der Spülmaschine holte. Die wackeren Helferinnen namens Idy, Sophie, Jennifer, Marcy und Joan hatten das Haus schon vor einer Weile verlassen. Die Aufwandsentschädigung, die Diana ihnen geben wollte, hatten sie alle abgelehnt.
»Wir mochten Ihre Tante sehr«, erklärte die rundliche Marcy, die ihr beim Gespräch mit Dr. Sayers auch den Kuchen gebracht hatte. »Es ist nur schade, dass sie in letzter Zeit nicht mehr viel aus dem Haus gekommen ist. Meine Mutter hat stets davon geschwärmt, wie sehr sie sich für Kriegsverletzte und Traumatisierte eingesetzt hat.«
Das schienen die anderen Frauen ähnlich zu sehen, denn
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