Die Schmetterlingsinsel
Hinweis auf den Absendeort. Nur das Datum: 15. Februar 1888.
Knapp anderthalb Jahre zuvor hatte Henry das Telegramm bekommen, das den Tod des Bruders verkündete. Nun dieser Brief. Was hatten die beiden Dinge miteinander zu tun?
Bedauernd blickte Diana zu dem Geheimfach. Lag darin die Antwort? Schade nur, dass der Schlüssel noch eine Weile auf sich warten lassen würde. Jetzt war es erst Donnerstag, und die Beerdigung stand direkt vor der Tür.
Nachdem sie den Brief noch einmal betrachtet hatte, kam ihr plötzlich in den Sinn, was Dr. Sayers erzählt hatte. Dass Beatrice einen Brief bei sich gehabt hatte, mit dem sie um Hilfe gebeten hatte. War das dieser Brief? Diese alte Zusage, zu helfen?
Der Wortlaut des Schreibens ließ jedenfalls darauf schließen.
Verwirrt grübelte Diana noch eine Weile nach, doch eine Antwort wollte ihr nicht einfallen. Schließlich sah sie ein, dass es besser sein würde, zu Bett zu gehen. Nachdem sie ihn vorsichtig in den Umschlag zurückgeschoben hatte, legte sie den Brief zum Telegramm und dem Teepäckchen, dann löschte sie das Licht und ging nach oben.
Am Beerdigungstag schloss sich das Wetter der Trauer um Emmely an. Draußen wurde es gar nicht richtig hell. Das elektrische Licht schien aus den Fenstern zu sickern und hinterließ nichts als trübes Zwielicht.
»Hätten wir nicht die Spiegel zuhängen müssen?«, fragte Diana nachdenklich, während sie in dem kleinen Küchenspiegel, der der Köchin früher erlaubt hatte, das Personal auch dann zu überwachen, wenn sie ihm den Rücken zukehrte, ihre Frisur richtete. Nur selten trug sie ihr Haar so streng zusammengebunden, doch es passte zum Anlass und zu ihrem Kostüm.
»Das ist ein überholter Brauch«, gab Mr Green abwinkend zurück. »Mrs Woodhouse hätte das für Unfug gehalten.« Prüfend betrachtete er Diana. »Sie geben einen sehr würdevollen Anblick ab, Miss Diana, Ihre Tante wäre gewiss stolz auf Sie.«
»Danke, Mr Green«, entgegnete sie, während sie Daumen und Zeigefinger auf die Nase legte, um die Tränen zurückzuhalten. »Aber Sie sollten sich mit solchen Komplimenten ein wenig zurückhalten, sonst sehe ich noch aus wie Alice Cooper.«
Mr Green lächelte sie breit an. »Gut zu sehen, dass Ihr Humor immer noch da ist.«
»Ich denke, wir Deutschen haben keinen Humor.«
Ein schelmisches Funkeln trat in die dunklen Augen des Butlers. »Sie sind keine richtige Deutsche, Miss Diana. In Ihrem Blut ist sicher noch genug britischer Anteil.«
»Dann bin ich ja beruhigt.«
Gefolgt von Mr Green verließ Diana wenig später das Haus. Die Trauerfeier für ihre Tante sollte in der kleinen Dorfkirche stattfinden. Diana rechnete damit, dass viele Menschen ihr die letzte Ehre geben würden, also wappnete sie sich rechtzeitig mit Taschentüchern vor Gefühlsausbrüchen. Sie mochte vielleicht noch einen guten britischen Anteil in ihren Genen haben, aber von der britischen Erhabenheit war sie meilenweit entfernt.
Vor der kleinen Dorfkirche reihten sich etliche, ganz verschiedene Fahrzeuge auf.
»Offenbar sind alle gekommen, die geladenen wie die ungeladenen Gäste.« Mr Green wirkte zufrieden. Schon seit dem Vortrag war er mit den Vorbereitungen für die Totenfeier beschäftigt gewesen. All die Kuchen umsonst gebacken zu haben, hätte ihn gewiss gekränkt.
Diana blickte ein wenig beunruhigt zu dem Pulk schwarzgekleideter Menschen, die zumeist kleine Blumensträuße bei sich trugen. Eine große Verantwortung lag auf ihren Schultern. All diese Menschen, die ihre Tante offenbar gemocht oder zumindest geschätzt hatten, erwarteten eine angemessene Trauerfeier. Wenn es nach ihr ging, würde ihre Tante diese bekommen, aber zuweilen steckte der Teufel im Detail, und Diana musste zugeben, dass ihre Gedanken immer wieder zu dem Geheimnis abgeschweift waren. In der Nacht zuvor hatte sie gar von Emmely geträumt, die ihr klargemacht hatte, keine Zeit zu verlieren. Die Hinweise könnten sonst wie Spuren am Strand von den Wellen der Zeit ausgelöscht werden. Den eiskalten Schweiß, der ihre Haut bedeckt hatte, als sie hochgeschreckt war, meinte Diana noch immer zu spüren.
»Sollen wir?«, fragte Mr Green und bot ihr seinen Arm an. Diana hakte sich bei ihm ein und schritt dann an den Trauergästen vorbei zum Portal. Vor dem Altar war der Sarg aufgebahrt worden, allerdings geschlossen, wie es auf einer Verfügung gestanden hatte, die Diana in Emmelys Unterlagen gefunden hatte.
»Ich möchte nicht, dass man mich ansieht, wenn ich
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