Die Schmetterlingsinsel
ihn …« Doch Victorias Hände griffen ins Leere, Grace stürmte im nächsten Augenblick durch den Perlenvorhang.
»Können Sie mir erklären, warum Sie meiner Schwester keins von diesen lächerlichen Palmblättern geben wollen?« Grace richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und verschränkte die Hände vor dem Körper.
Der alte Mann hob den Kopf und blickte sie ruhig an. Ja, er lächelte sogar, als hätte er sich mit ihr einen Scherz erlaubt. »Manche Menschen kein Palmblatt, weil Seele neu auf Welt. Noch kein Karma, noch kein Leben davor.«
Er sprach Englisch? Und dann auch noch so gut? Warum tat er dann so, als verstünde er nichts? Gehörte das zu seinem Betrug dazu?
Nach einem Moment des Erstaunens fing sich Grace wieder. Da ihr die Erklärung äußerst fadenscheinig erschien, forderte sie: »Ich möchte Ihre angebliche Palmblattbibliothek sehen!«
»Das können Sie nicht«, gab der Alte seelenruhig zurück.
Grace verschränkte angriffslustig die Arme vor der Brust. »Und warum nicht? Weil Sie nur ein einziges von diesen vertrockneten Blättern besitzen, oder? Ich werde mich beim Gouverneur persönlich darüber beschweren, dass solche Betrügereien in seinem Herrschaftsbereich möglich sind!«
Obwohl der Alte sie nun wieder seltsam und bohrend musterte, sah Grace ihn weiterhin herausfordernd an.
Schließlich wandte sich der Alte wieder an seinen Gehilfen. »Zeig sie ihr.«
»Aber sie sind heilig!«, wandte er ein.
»Sie wird uns bei Behörden anzeigen. Zeig sie ihr.«
Der junge Mann sah sie finster an, ging zur Tür und öffnete sie.
»Kommen, Miss.«
Misstrauisch trat Grace näher. Würde der Kerl ihr eins überziehen? Ihr Herz raste wie wild, doch ihr Stolz verbot ihr den Rückzug. Als sie durch die Tür spähte, stockte ihr der Atem. In einem Raum, der ungefähr die Größe des Arbeitszimmers ihres Vaters hatte, lagen auf etwas windschiefen Regalen angeordnet fächerartige Bücher aus diesen beschriebenen Palmblättern, so viele, dass sie sie auf Anhieb nicht zählen konnte. Jedes dieser Bücher enthielt Dutzende von getrockneten Palmblättern, die von der Zeit geblichen worden waren.
Erschüttert zog sich Grace zurück. Ihr Ausbruch war ihr auf einmal furchtbar peinlich.
»Ich habe gespürt, dass Sie zweifeln«, sagte der alte Mann hinter ihr. »Doch Schicksal kümmert sich nicht darum. Ich habe Ihnen vorgelesen, was geschehen wird. Wenn Sie meinen Rat dazu brauchen oder die Vorhersage noch einmal wissen wollen, kommen Sie jederzeit her.«
»Verzeihen Sie, ich …« Grace verstummte beschämt.
»Sie sind Engländerin. Sie nicht kennen unsere Wege. Noch nicht.«
Zu ihrem großen Erstaunen klang seine Stimme weder grollend noch beleidigt. »Höre immer auf dein Herz und folge ihm«, setzte er hinzu. »Tust du das nicht, wirst du Unglück bringen über dich und jene, die du liebst. «
Verwirrt sah Grace ihn an, dann verabschiedete sie sich von dem Alten und trat nach draußen.
»Sie haben doch kein Blatt für mich, stimmt’s?«, fragte Victoria, als sie zu ihr gelaufen kam.
Grace schüttelte den Kopf. »Komm, Victoria, wir müssen zurück!« Nachdem sie sich kurz nach dem Mann, der hinter ihr in den Warteraum getreten war, umgesehen hatte, nahm sie ihre Schwester bei der Hand und zerrte sie nach draußen.
Am Abend, zurück im Hotel und nach einer anständigen Standpauke durch ihre Mutter und einem Vortrag über gutes Benehmen seitens Miss Giles, setzte sich Grace wieder in die Fensterlaibung.
Mondlicht versilberte den Hafen und das Meer, der goldene Schein der Lampen warf ihre Gestalt als Spiegelbild auf die Scheiben. Durch die Dunkelheit leuchteten die Lampen der Schiffe, und in der Ferne schickte der Leuchtturm sein Licht durch die Nacht.
Aus irgendeinem Grund war ihr der Besuch in der Palmblattbibliothek nicht aus dem Sinn gegangen. Vielleicht, weil ich mich so unmöglich benommen habe?
Je länger die Sitzung zurücklag, desto mehr Details, die ihr in ihrer Voreingenommenheit nicht bewusst geworden waren, kamen ihr in den Sinn, wie ein Zauber, der langsam zu wirken begann.
Die Art, wie der alte Mann die Fingerkuppen über die eingebrannten Buchstaben hatte gleiten lassen und dazu mit leierndem Singsang die Worte intonierte, die von seinem Schüler übersetzt worden waren. Das Blatt, das schon viele hundert Jahre alt sein musste. Der Duft nach Weihrauch, Patschuli und anderen Dingen, die sie nicht benennen konnte. Und dann der Blick des Mannes!
Obwohl sie sich sagte, dass das
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