Die Schmetterlingsinsel

er lächelnd. »Ich es geben zum Lesen Brahma.«
    Offenbar war das der Name des Alten, der nun das Blatt mit einer huldvollen Verbeugung gereicht bekam. Brahma wandte den Blick endlich von ihr ab und ließ seinen Finger über das trockene Palmblatt gleiten. Nach einer Weile sprudelten die ersten fremdartigen Worte aus seinem Mund, die der junge Gehilfe simultan übersetzte.
    Nur schwerlich konnte Grace den von schwerem Akzent gefärbten Worten folgen.
    »Vater reicher Mann … große Reise … Entscheidung … Sturm, der alles verändert … Hochzeit …«
    Nach einer Weile gab Grace es auf, den Worten folgen zu wollen. Sie ließ die Informationen, die sie eigentlich gar nicht haben wollte, wie Wasser an sich herunterrieseln, bis der junge Mann schließlich sagte: »Du gehen in dreiundsechzigste Jahr in nächste Leben ein. Du noch drei Leben bis erreichen Nirvana.«
    Sagte er ihr etwa ihren Tod voraus? Mit dem fremden Wort am Ende konnte sie nichts anfangen, doch es klang ziemlich nach Jenseits.
    Auf einmal schnürte ihr das Korsett die Luft noch mehr ab als zuvor, die Hitze in dem Raum war unerträglich, und ihre Glieder begannen zu zittern. Nur unter Aufbietung ihrer gesamten Beherrschung schaffte sie es, nicht aufzuspringen und aus dem Raum zu stürmen.
    Als der Alte verstummte und der Gehilfe endlich mit seiner Übersetzung am Ende war, griff Letzterer zu einem Blatt Papier, auf das er in Windeseile die Zeichen von dem seltsamen Blatt herunterkopierte.
    Als er es ihr reichte, war Graces Hals so trocken, als hätte sie Sand geschluckt.
    »Das nehmen, Miss, als Erinnerung und wenn noch Fragen.«
    Grace war sicher, dass sie nicht noch einmal an diesen Ort kommen würde. Das Gebrabbel des Gehilfen hatte sie beinahe schon wieder vergessen. Und gewiss war es doch nur Unsinn, was er ihr prophezeit hatte.
    Dennoch bedankte sie sich höflich und verließ dann mit großen Schritten den Raum. Draußen flog ihr Victoria regelrecht entgegen.
    »Und? Was hat er dir vorhergesagt?«
    »Dass wir einen Haufen Ärger bekommen werden und das alles für unsinniges Gestammel und Zeichen, die keiner lesen kann.«
    Mit leuchtenden Augen riss Victoria ihr das Blatt aus der Hand. »Was bedeutet das? Was hat er zu dir gesagt?«
    »Nichts von Belang. Wir sollten jetzt lieber wieder gehen.«
    »Aber ich war doch noch nicht an der Reihe!«, protestierte Victoria und hielt ihre Schwester mit einem beherzten Griff an ihren Rock zurück. »Außerdem galten die fünf Rupien für uns beide!«
    Da erschien auch schon der Gehilfe, der die zweite Miss hereinrief.
    Beinahe rannte Victoria hinter dem Mann her, der gekommen war, um sie abzuholen. Grace sah ihr seufzend nach, ließ sich dann auf die Holzbank sinken und richtete einen Blick auf den Papierbogen. Sagten die Schriftzeichen wirklich das aus, was man ihr erzählt hatte? Hatte sie den Mann richtig verstanden? Vielleicht sollte ich das Blatt noch einmal von jemand anderem lesen lassen? Auf der Plantage gab es doch sicher Leute, die dazu bereit wären.
    Doch was kümmere ich mich überhaupt darum? Die Vorhersagen passen bestimmt auf jede andere Engländerin auch, die nach Ceylon kommt . Der Alte und sein Gehilfe, der vielleicht sogar sein Sohn war, boten ihre Dienste gewiss nur an, um sich am Leben zu erhalten. Wer weiß, vielleicht hatten sie diese Palmblätter selbst geschrieben und machten nun ein großes Brimborium darum, um die Aura des Mystischen zu wahren? Vielleicht gab es hinter der Tür, die er schnell wieder zugemacht hatte, gar keine Bibliothek dieser Blätter, sondern nur ein einziges, das den Leuten immer wieder gezeigt wurde, während sich der ältere Mann Geschichten dazu ausdachte. Wer konnte schon nachprüfen, was auf dem Blatt wirklich stand?
    Ich werde es herausfinden, dachte Grace auf einmal entschlossen, und dem Betrug ein Ende setzen.
    Nach einer schier endlos erscheinenden Zeitspanne kehrte Victoria zurück. Sie trug keinen Zettel bei sich und zog ein langes Gesicht. »Sie haben keines für mich«, berichtete sie enttäuscht.
    »Was?« Grace zog verwundert die Augenbrauen hoch. Dann packte sie der Zorn. Natürlich ist das alles nur fauler Zauber. Sie hatte es doch gewusst! Wenn mehr als eines von diesen ­lächerlichen Blättern existieren würde, hätten sie es nicht nötig gehabt, Victoria zu enttäuschen. So fürchteten sie natürlich, dass es auffliegen würde, wenn sie zweimal dieselbe Vor­hersage machten. »Ich werde mit dem Mann sprechen!«
    »Nein, lass