Die Schmetterlingsinsel
Gestrüpp folgte und damit ebenfalls Ärger riskierte, stimmte sie ungemein hoffnungsfroh.
»Wir bleiben aber nur ein paar Minuten, dann sehen wir zu, dass wir wieder zurückkommen«, zischte Grace ihr ins Ohr.
Nur einen Augenblick später bereute sie, nachgegeben zu haben. Hinter ihnen hatte sich der Menschenstrom geschlossen und trug sie nun wie die Wogen eines Flusses in der Straße voran. Auf die Schnelle kehrtzumachen, war nahezu unmöglich.
Als sie schließlich in einer Seitengasse wieder herauskamen, lag die Zimtplantage weit hinter ihnen. Jetzt wurde Grace klar, dass sie nicht zufällig an diesem Ort waren. Ihre durchtriebene kleine Schwester hatte alles bis ins kleinste Detail geplant!
»Komm schon!«, rief Victoria, während sie sie an der Hand voranzog. »Es müsste hier irgendwo sein!«
»Du meinst den Tempel?«
»Nein, etwas viel Spannenderes.«
»Hast du davon in dem Stadtführer gelesen?«, fragte Grace besorgt.
»Nein, auf einem Handzettel, der auf dem Fensterbrett im Speisesaal lag.«
»Und was stand darauf?«
Grace erinnerte sich an das abgegriffene Pamphlet und ärgerte sich nun, es ausgeschlagen zu haben, einen Blick darauf zu werfen. So konnte sie Victoria nicht einmal ihr Vorhaben ausreden.
»Das verrate ich dir nachher. Jetzt lass dich nicht ziehen wie ein störrischer Esel.«
Zwischen den Einheimischen in ihren Saris und Sarongs fühlte sich Grace vollkommen fehl am Platze. Schweiß lief unter dem Korsett ihren Rücken hinunter, und ihre Haut fühlte sich an, als würde sie nicht nur wegen der Sonne brennen. Die Blicke der Einheimischen, die Verwunderung über den Aufzug der beiden Engländerinnen, stachen wie Nadeln auf ihren Körper ein, und am liebsten hätte sie mit Victoria kehrtgemacht.
Doch da machte ihre Schwester schon vor einem etwas verfallen wirkenden Gebäude halt. Der Putz bröckelte in großen Fladen ab, ein Fensterladen hing schief in den Angeln. Anstelle von Gardinen hingen bunte Tücher vor den Fenstern, neben dem Eingang entdeckte Grace eine bunt bemalte, vielarmige Männerstatue. Unter dem Vordach aus geflochtenen Palmblättern saß ein junger Mann in farbenfrohen Gewändern, auf dessen Stirn zwei rote Striche leuchteten, wie sie sie schon bei Männern am Hafen gesehen hatte. Er musterte die beiden jungen Frauen eindringlich, ja beinahe dämonisch.
»Sie Engländer«, sagte er schließlich. »Sie wissen wollen Schicksal?«
»Aber natürlich!«, rief Victoria begeistert aus. »Grace, das ist eine Palmblattbibliothek! Hier soll es Hunderte von diesen Blättern geben, auf denen die Schicksale der Menschen geschrieben stehen. Das stand auf dem Zettel!«
Deshalb hatte Victoria nichts gesagt! Sie wusste, dass ich dazu nein sagen würde! Grace zog sie an der Hand zurück.
»Das ist nur Budenzauber, Victoria! Lass uns wieder gehen!«
»Wenn es nur Budenzauber ist, brauchen wir davon ja nichts zu befürchten.« Victoria setzte ihr flehendes Kleinmädchengesicht auf, von dem sie wusste, dass ihre Schwester ihm nicht widerstehen konnte. »Bitte, Grace, lass ihn uns die Zukunft vorhersagen!«
»Aber er wird bestimmt versuchen, uns auszurauben!«, hielt Grace dagegen, wobei sie allerdings wusste, dass das keinen Effekt auf ihre nach Abenteuern dürstende Schwester haben würde.
»Dazu hätten die anderen Leute auch schon Gelegenheit gehabt, oder nicht? Nicht mal die aufdringlichen Juwelenhändler am Hafen haben uns etwas getan!«
Grace seufzte. Wenn sie nicht nachgab, würde Victoria ihr den ganzen Weg über Vorhaltungen machen, was für ein Angsthase sie war.
»Also gut, was kostet das?«, fragte Grace, worauf sie der Mann mit seinen dunkelbraunen Augen so eindringlich musterte, als wollte er in die tiefsten Regionen ihrer Seelen schauen. Wahrscheinlich gehört das zu der Gaukelei dazu, sagte sie sich, wich seinem entblößenden Blick aber nach einer Weile aus.
»Fünf Rupien!« Um seine Worte zu unterstreichen, spreizte er die Finger seiner rechten Hand und hielt sie ihr entgegen.
Victoria stieß Grace ihren Ellbogen in die Seite. »Na mach schon, sei kein Angsthase. Noch vor zwei Jahren wärst du diejenige gewesen, die mich in solch ein Haus geschleppt hätte.«
Stimmte das? Grace war mittlerweile nicht mehr sicher, ob sie wirklich je so wild gewesen war wie ihre Schwester. Der Unterricht in Benehmen und die angekündigten Pflichten als Erwachsene hatten die Streiche der Vergangenheit in Vergessenheit geraten lassen.
Grace reichte dem jungen Mann das Geld,
Weitere Kostenlose Bücher