Die Schmetterlingsinsel
sie jedes Anwesen in Europa beneidet hätte. Das Gras war ordentlich geschnitten, wie es sich für einen englischen Garten gehörte, und obwohl sie keinen besonderen Sinn für Botanik hatte, brannte Grace doch darauf, zu erfahren, wie die flammend roten Blüten hießen, die aus den sauber angelegten Beeten sprossen.
Das im kolonialen Stil errichtete Herrenhaus wirkte gegen all das Grün wie eine Perle. Ein wenig erinnerte es Grace an Tremayne House, wenngleich dessen Wände dunkler und von Efeu überwuchert waren. Auch gab es auf dem Rondell keinen Springbrunnen, dafür aber zahlreiche größere und kleinere Wirtschaftsgebäude.
Neben der Blütenpracht fielen Grace die Menschen ins Auge, die geschäftig über das Gelände eilten. Frauen mit vollen Teekörben auf dem Kopf verschwanden in Schuppen, wo ihnen die Last abgenommen wurde. Obwohl ihre Gewänder recht einfach gehalten waren, strahlten sie doch in prachtvollen Farben, wie Grace sie nie zuvor gesehen hatte.
Überall schwebte der Geruch von Tee und süßen Blüten in der Luft. Das hatte London zu dieser Jahreszeit nicht zu bieten, außer in stickigen Salons, deren Besitzerinnen ein Faible für Exotik hatten.
Als die Wagen anhielten, fand die Familie wieder zusammen. Grace zog Victoria, die in die Betrachtung eines Baumes mit orange-roten Blüten versunken war, mit zu ihren Eltern, die sich gerade einen Vortrag von Mr Cahill anhören mussten.
»Bevor Ihr Bruder kam, hatte hier jemand versucht, Kaffee anzubauen.« Der Advokat stieß ein selbstgefälliges Lachen aus. »Mit katastrophalem Erfolg. Die Pflanzen wurden von dem sogenannten Kaffeerostpilz befallen, so dass dem Vorbesitzer nichts anderes übrigblieb, als zu verkaufen. Ihr Bruder hat sich dafür entschieden, hier Tee anzubauen, weil Boden und Klima dafür ideal sind. »
»Mein Bruder scheint die Zeichen der Zeit wirklich erkannt zu haben.« Bewundernd blickte sich Henry Tremayne um. Wenn es wirklich das von Cahill beschriebene Chaos gegeben hatte, hatten die Handwerker und Bediensteten beste Arbeit geleistet.
»O ja, Sir, Ihr Bruder wird hier überall geschätzt, und Sie können mir glauben, dass man ihn schmerzlich vermisst. Doch ich bin sicher, dass Sie die Lücke, die er hinterlassen hat, bestens ausfüllen.«
Als sie sicher war, dass Cahill sie nicht sehen konnte, schüttelte Grace den Kopf. Solch ein pathetisches Geschwätz hatte sie ja noch nie gehört! Natürlich redete der Mann hier um sein Leben, oder besser gesagt, um seine Einkünfte, denn wenn ihr Vater nun der Herr von Vannattupp u cci war, stand es ihm frei, sich einen anderen Berater zu suchen. Doch Grace kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er Cahill vorerst in seinen Diensten behalten würde, wenn sich dieser keine allzu häufigen Fehltritte leistete.
Als sie kurz zur Seite blickte, um den herrlich blühenden Busch zu betrachten, der auch schon den Blick ihrer Schwester angezogen hatte, bemerkte Grace einen hübschen, großgewachsenen Mann, der sich beinahe schüchtern abseits hielt und darauf zu warten schien, dass man auf ihn aufmerksam wurde. Obwohl er englische Kleidung trug, ging etwas Frem dartiges von ihm aus. Sein schwarzbraunes Haar war etwas länger als zu diesen Zeiten üblich, auf seinen schmalen, kantigen Zügen lag ein goldener Schimmer. Dichte, leicht geschwungene Brauen thronten über einem Paar dunkler Augen, ein kurzgeschnittener schwarzer Bart an Oberlippe und Kinn umkränzte ein Paar voller Lippen.
»Ah, da sind Sie ja, mein Junge!«, rief Cahill plötzlich aus und winkte den Fremden herbei. »Wenn ich vorstellen darf, Mister R. Vikrama, der Vorarbeiter der Plantage.«
»R?«, wunderte sich Victoria, was ihr einen mahnenden Blick seitens ihrer Mutter eintrug.
Mr Vikrama setzte ein mildes Lächeln auf, ging aber nicht darauf ein. Stattdessen verneigte er sich vor Henry und sagte: »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Sir. Auch wenn die Umstände nicht glücklich sind. Sie haben mein vollstes Mitgefühl.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, entgegnete Henry unverbindlich, dann legte er die Hand auf die Schulter seiner Frau. »Wenn ich vorstellen darf, das ist meine Frau Claudia. Und das sind meine Töchter Grace und Victoria.« Während sich Mrs Tremayne leicht verneigte, knicksten die beiden Schwestern.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Vikrama, während er Grace und Victoria kurz zunickte und sich dann der Hausherrin zuwandte. »Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie
Weitere Kostenlose Bücher